Persönliche Empfehlung Album

Reihum gibt eine/r der JurorInnen in dieser Rubrik ihre/seine persönliche Empfehlung für ein Album ab und begründet diese schriftlich.

DEZ 2014  Tom Schroeder, Mainz

Kay Kankowski - Komm

KK: Kay Kankowski - von dem schon der große Bob Dylan gesagt haben soll: Kay Kankowski? Wer ist das denn?

Bitte sehr, dem Manne kann geholfen werden, und nicht nur ihm: KK, Jahrgang 1962, gebürtiger Kieler, gefühlter Flensburger, wohnhaft in 24361 Haby, 10 km von Eckernförde entfernt. Gelernter Musikwissenschaftler, Sänger, Texter, Gitarrist, Gitarrenlehrer, Komponist (auch für Streichquartette). Versteht sich als Singer/Songwriter.

Zwei seiner Kollegen ermöglichen es, ihn und seine Arbeit etwas näher kennenzulernen. Liederjans Jörg Ermisch beschreibt ihn als "den lustigen Langen mit dem Schlapphut und der sympathischen großen Klappe. Dass das nur die halbe Wahrheit sein konnte, war mir schon klar."

Sangesbruder Paul Bartsch lobt "Kankowskis Fähigkeit, mit ebenso klaren wie schönen Worten auf einfache Weise die wichtigen Dinge des Lebens einzufangen." Die beiden Zitate findet man im Beiheft zu Kankowskis vorletztem, seinem vierten Album Vom Norden (2009).

Nun also der fünfte Streich, die CD komm: Vierzehn Titel nebst einer Geheimnummer, die vierzig Sekunden nach dem Ende des letzten Songs beginnt (ein vier-minütiges selbstreferenzielles Überraschungsei, erstmals war "Unter Brücken" auf dem Debütalbum von 1996 zu hören).

KK, der "bekennende Ostseeküstenbewohner aus dem Landesteil Schleswig", hat (wie er in seiner Selbstdarstellung schreibt) "gerockt und gejazzt, fühlt sich der regionalen Folxmusik verbunden" - etwa als Mitglied der Gruppen hans dans und Avir Liekers -, "mag das akustische Lied und elektrischen Blues".

Seine vorzügliche fünfköpfige Band, auch hier schließe ich mich Kays Worten gerne an, "liefert jederzeit den passenden Groove zu Rock, Blues, Chanson, Soul und Balladen." Auch wenn Kay die Musik mag und nicht die Schubladen, aus der sie herausgeholt wird - all die eben genannten Genres kann man auf dem neuen Album hören und die Musiker darüber hinaus auch lesen. Im 16-seitigen Booklet ergänzen ihre mosaikartigen Statements zur gemeinsamen Arbeit und zur Person ihres Vorarbeiters aufs Feinste die vierzehn abgedruckten Texte: Ich halte eine solche Informationsausstattung für vorbildlich in ihrer Vielfalt und Sorgfalt. Beide Attribute gelten auch für die Musik und die Texte des Albums und den Umgang mit ihnen. Die Spielfreude wird dadurch ebenso wenig geschmälert wie das Hörvergnügen.

Wie gesagt, KKs fünfte CD trägt den Titel Komm. Sie hätte auch "geh" heißen können, etwa die Hälfte der Songs handelt vom Kommen und Gehen. Z. B. "Wenn man los muss" (und dabei nicht ohne Ironie merkt, wie man manch bildungsbürgerliches Gut einfach nicht loslassen kann). Im Rucksack also u. a.:

Von den Beatles einen beat
Von Georges Brassens ein wildes Lied
Sir Simons shake, rattle & roll
Und Willys Mandolinensoul

Gemeint ist die Mandoline von Willy Brandt, einem Nachfahren von:

Lenin, Marx und Fiete Engels
"Manic Monday" von den Bangles
Und eine Tüte Haribo
Macht erwachsene Kinder froh

Und die Anhänger von His Bobness dürfte folgender genialer Endreim erfreuen:

Eine Zeile von Bob Dylan
Eine Dose bunter Pillen
Von Hermann Hesse ein Gedicht
Und Isaaks Linsengericht

"Der Sommer war groß" kommt uns im schönsten West-Coast-Sound entgegen, mit bestem mehrstimmigen Satzgesang à la Crosby, Stills, Nash & Young. Der Trip ging 1977 Richtung Paris, Avignon, Florenz, Saint Malo und retour:

Mit knurrendem Magen und fast schon zuhaus" Das erste, das wir auf dem Bahnsteig erfuhren War die Schlagzeile: "Elvis ist tot!" Und wir haben uns in die Augen geseh"n Und gewusst: Unser Sommer war groß

(Und der Tod von Elvis Presley am 16. August 1977 war offenbar ein so weltbewegendes Ereignis, dass auch Bernie Conrads vor einigen Jahren ein Lied darüber geschrieben hat.) Drei Stücke des Albums gefallen mir besonders gut. Alle drei gründen auf einer soliden Bluesbasis, sie sind kräftig gewürzt mit "Blues-Aroma" (Christian Pfarr). Kankowski reizt am Blues die "mögliche Reibung an der strengen Form". Da wäre zunächst "Hic sunt leones" (Hier sind die Löwen: Im römischen Reich war das die Bezeichnung für unbekanntes afrikanisches Terrain). In dem zweiundzwanzigtaktigen Blues variiert KK ein Thema der alten Bluesmeister, das auch Bob Dylan immer wieder gern aufgegriffen hat (Wolfgang Niedecken 2014: "Bob Dylan ist der große amerikanische Blues-Sänger der Gegenwart."), erste Strophe:

Ich sag" dir nicht, wie"s Wetter wird
Ich sag" nur, es wird nicht immer heiter
Ich weiß auch nicht, wo die Wolken hinziehen
Aber ich weiß, sie ziehen weiter

Bluesgetränkt auch ein Heimatlied von heute, ein Acht- und Sechzehn-Takter, der sich über die Bundesstraße 77 bewegt, sozusagen die Route 66 mit sspitzem Sstein:

Auf der Straße, die Schleswig mit Holstein verbindet
Und von Hafen zu Hafen in den Gezeiten verschwindet
Ja, manch halbe Geschichte findet sich In der Landschaft mit dem Bindestrich.
Man schlägt sich und verträgt sich

Man vermisst sich und man küsst sich
Man sieht sich und verliebt sich an der B77.

"Schließlich Du tust so gut". Im Zusammenhang mit dem CD-Titel Komm hat es mich an einen alten Sexwitz erinnert (Sie zu ihm: Luigi, es heißt nicht "ich gehe!"). Mit Zydeco-Akkordeon, Handclapping auf die zwei-und sowie die vier, mit Grüßen von den Beatles (auch die wären nichts ohne die Afroamerikaner) geht es zur Sache:

Du tust so gut wenn ich mal wieder nicht schlafen kann Hilfst du mir in die Nacht Mit deiner zarten Hand Du tust so gut Wenn du am anderen Morgen Frühstück machst Krieg" ich Hunger auf das Was du noch besser machst

Kay Kankowski weiß, was er aussagen kann mit sesshafter Brust, in seinen Liebes- und Bleibe-Liedern. Er weiß auch, dass Blues realistische Unterhaltungsmusik ist. Und er befindet sich da in guter Gesellschaft. Seit fast neunzig Jahren hinterlässt der Blues seine Spuren im deutschsprachigen Lied, von den Comedian Harmonists und ihrer Scat-Version von Duke Ellingtons "Creole Love Call" (1927/28) über Nachkriegshits wie "Mäcki-Boogie" von Bully Buhlan/Rita Paul oder "Jonas, warum trugst du keine Brille" von Paul Kuhn/Ralf Bendix bis hin zu den kongenialen Blues-CDs von Stoppok und Worthy (2009, 2010) und zu Anna Depenbuschs "Wenn du nach Hause kommst" (2011). Ganz aktuell hält sich Alex Behning wacker in der Liederbestenliste, Bodo Wartke ("Probleme die ich früher nicht hatte") und der Marenka-Pianist Olli Taupp ("Ich seh dich") greifen grad mal wieder in die Boogie-Tasten. Wie gesagt, Kay Kankowski ist da in guter Gesellschaft, er braucht sich vor niemandem zu verstecken.

P.S. Die Titelmelodie der ZDF-Berichterstattung von der Fußball-WM 2014, der Song "Love Runs Out" der amerikanischen Rockband OneRepublic, w ar ein geradezu schulmäßiger Blues-Zwölftakter. Yusuf (einst Cat Stevens) hat soeben ein Bluesalbum vorgelegt (Tell "Em I"m Gone). Und Leonard Cohens jüngste Veröffentlichung (Popular Problems) ist auch ein Blueswerk.

NOV 2014  Peter Eichler, Leipzig

Pigor singt, Benedikt Eichhorn muss begleiten - Volumen 8

Sie haben keine Titel für ihre CDs, die vielleicht die Erwartungen wecken und dann nicht erfüllen, nein Pigor & Eichhorn beschränken sich auf das schlichte Durchnummerieren 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, und jetzt die 8. Der Blick auf das Booklet verrät noch nicht, was da kommt, der Blick auf die Songliste lässt es aber ahnen, denn Titel wie "Hausschweine", "Berlin Airport", "My Funny Valentine" oder "Muttertagsvergesser" sind erst einmal Eyecatcher, die zum "Earcatcher" werden können.

Dafür muss man Pigor und Eichhorn aber mögen. Denn beide tummelten sich ja noch nie im Mainstream des Chansons, im Gegenteil, Auffälligkeiten gehören bei beiden dazu. Vor Jahren sprachen Pigor und Eichhorn gern vom Chanson-Pop, den sie machen. Inzwischen ist das jedoch gewaltig untertrieben, denn auf der neuen Scheibe gibt es ein Treffen von deutschem Schlager der Fünfzigerjahre, Hip-Hop, grundanständiger Blasmusik, Jazzstandards bis hin zum Folk. Das ist die Begleitmusik zu Geschichten aus dem kleinsten Kaff, aus den schmalen Straßen der Vorstädte bis hin zu Ereignissen der ganz großen Weltpolitik. Dabei gehören das piefige "Muttertagsvergesser", "Einer bohrt immer " oder "Gastgeber" zu den scheinbar typisch deutschen Geschichten, in denen das Ego des Einzelnen wie so häufig über den Interessen der anderen steht. "Berlin Airport" und "Freihandel" sind da schon die größeren Stories, die in der Öffentlichkeit möglichst nicht stattfinden sollen, denn es geht ja um viel, um viel Geld, um weniger Freiheit für die einen und die ganz große für die anderen, zu denen wir nicht gehören.

Pigor und Eichhorn gelingt in unnachahmlicher Weise der Brückenschlag vom Privaten in die Weltpolitik. Und endlich haben wir auch eine Definition für innerhäusiges Fremdgehen: Bratkartoffelverhältnis ist Nachbarschaftshilfe auf Gegenseitigkeit. Überhaupt - die Wörter in den Händen von Pigor und Eichhorn werden immer wieder zu grandiosen Sätzen, die in solchen gipfeln wie "In den Brandenburger Sand setzen wir ganz entspannt den Airport Willy Brand". Ein schlichter Satz, dessen Geschichte dahinter den Steuerzahler Milliarden kostet, was bisher aber noch immer weitgehend klaglos hingenommen wird. Geblieben ist auf dieser neuen CD des Duos das Ironische das Satirische, das Zynische mit denen die Geschichten erzählt werden. Aber - so wollen wir sie hören von Pigor und Eichhorn. Nett sind andere. Hier sind es die kleinen Gehässigkeiten, das Wissen, um wieviel man zu weit gehen kann, das das Lachen aber auch das Nachdenken auslöst. Pigor singt, Benedikt Eichhorn muss begleiten -Volumen 8 - eine CD jenseits ausgetretener Pfade, für deren Hören jetzt in der dunkleren Jahreszeit genug Muse bleibt.

OKT 2014  Michael Laages, Hannover

Christian Redl - Sehnsucht

Nein – als grundsätzlich entspannten, gemütlichen oder gar heiteren Menschen sollte sich den in Hamburg lebenden Schauspieler Christian Redl wirklich niemand vorstellen. Seit er im Theater Fuß fasste vor bald dreieinhalb Jahrzehnten, seit er bald darauf auch regelmäßig auf Leinwand und Bildschirm erschien, war und blieb er weitestgehend festgelegt auf kompliziert-gebrochene Typen; auch darum ist nie ein Routinier aus ihm geworden. Er kämpft mit sich, und ziemlich viele Dinge kämpfen wohl in ihm, bis ihm das Profil einer Rolle wirklich gelingt, Um- und Abwege, Abstürze gar, immer inbegriffen. Kaum weniger kompliziert und gebrochen ist Redls Liebe zur Musik und zum Lied; leichten Sinnes ist er auch als Sänger nicht. Als er sich ganz am Beginn des musikalischen Weges Francois Villon vornahm, maß er sich immerhin mit dem eigentlich unermesslichen Klaus Kinski; im Programm des durchaus eher überschaubaren Tourneekalenders seiner aktuellen Band, die er mit dem Saxophonisten Vlatko Kucan betreibt, geht es auch um kein kleines Kaliber: "Die Blumen des Bösen" nach Texten des finster-exzessiven Poeten Charles Baudelaire. Sehnsucht, Redls frischeste CD, hat von all dem etwas.

Da spricht ein vielfältig zerklüfteter Mann, meistens als anonymer "er" vorgestellt vom düster raunenden Sänger Redl. Dieser Mann hat es und macht es sich nicht leicht – erzählt von vergangenen Verlusten, etwa der früher mal großen Liebe, in "Wien" etwa oder in "Vorbei", wie von einigen frischeren Amouren, zum Beispiel in "Verführung" oder dem ziemlich schrägen "Paris"-Melodram. Was für eine schnöde Geschichte: Da lädt ein sehr Einsamer die Barfrau aus einer sonst eher gemiedenen Destille in einem Anfall von Irrsinn zum Flug an die Seine ein – wo er aber als erstes feststellt, was für ein berechnendes Luder die Lady ist. Die Reise wird teuer; und sprachlos kehren beide zurück. In diese Kneipe wird er sich nie wieder verirren.

Klug sind Redls Männer nicht. Sie suchen nach vielem und finden nicht viel; schönstenfalls mal eine "Sehnsucht" oder einen "Traum" – an dessen Ende aber prompt im Radio der Krieg ausgerufen wird. Natürlich sind "Nacht" und "Alkohol" im Spiel, und im "Abgang" des letzten Liedes sitzt ein gewesener Künstler nach dem eher tristen Abschied von Publikum und Bühne auf der Parkbank und fühlt, wie sich der Schatten des Todes auf in legt. Selbst die einzige richtige Liebesgeschichte, besser: die Geschichte vom Sich-Verlieben, bekommt den poetisch-distanzierenden Titel "Gedicht".

Vlatko Kucan hat auch diesmal Redls einfache Songmelodien in Atmosphären gesetzt; nur leider fehlen auf CD und Info-Material die Namen der weiteren Musiker. Redls düsteres Erzählen aber schafft eine Atmosphäre für sich, gemischt aus Erinnerungen an die toten Ahnen Villon, Rimbaud und Baudelaire mit ganz viel zermürbender, oft auswegloser Gegenwart. Häufig war der viel umgänglichere Ulrich Tukur Redls Bühnenpartner, jetzt schreibt er einfühlsame, kluge Worte über Redls "Sehnsucht"; und bekennt, dass er oft auch Angst gehabt habe um diesen ziemlich einzigartigen Künstler. Wer die CD hört, vielleicht auch mehrmals, der wird das verstehen.

SEPT 2014  Christian Beck, Berlin

Niels Frevert - Paradies der gefälschten Dinge

Der 47-jährige Autor, Musiker und Sänger – Anfang der Neunziger Chef der Hamburger-Schule-Band Nationalgalerie – hält einige Trümpfe in der Hand. Zum Beispiel ausgesprochen ungewöhnliche Themen wie den Anruf beim Freund in der Psychiatrie oder einen Unfall mit Koma-Folgen – erzählt offenbar aus der Perspektive des Opfers? Das gemessen daran vergleichsweise gewöhnliche Ade an die oder den Ex – erschließt sich aus dem Text schlauerweise nicht – glänzt trotz Resignation durch wohltuenden Verzicht auf jegliche negative Energie. Der Einfall organisierter Christen in Hamburg wird von UFO-Erscheinungen gerettet – und so weiter und so fort: wohltuend schräge Geschichten ohne jegliche platten Botschaften, dafür mit umso mehr Raum, sich selbst einen Reim darauf zu machen.

Zweiter großer Trumpf: der Ton, in dem der Künstler seine Kleinode musikalisch verhandelt! Nicht ein einziges Mal greift er spürbar daneben – nicht einmal wenn er mit einem ausgesprochen spitzfindigen „ha-ha-heilig“ im „Schwör“-Telefonat in die Anstalt ganz knapp vor dem Kalauer letztlich doch genau das richtige Maß an Ironie aufbietet, das es braucht, damit das alles das richtige Maß hat: „Bei allem, was dir…“ Genau, sehr witzig, sehr schön durchschaut den überkommen pathetischen Phrasenklassiker; und damit sehr schön die Balance hinbekommen, die es dem Hörer erst ermöglicht, ein so grausames Thema wie den Freund, der aus der Klapse wieder heraus will, überhaupt an sich heranzulassen.

Dazu in den besseren Momenten richtig tolle Musik! Nicht alle Stücke sind gleichermaßen gelungen, nicht alle kommen richtig in Fluss – aber das muss bei einem Album mit zehn Stücken ja auch nicht wundern. Wenn alles passt, wird der lakonische Blick auf diese fremde und seltsame Welt in einem betörend entspannten, sanften Singer/Songwriter-Pop und -Rock auf Gitarrengrundlage dargeboten, als Kontrast zum Schrecken im Detail ausgesprochen wohltuend und passend. Überwiegend und manchmal sogar betont langsam, mit sehr gefälligen Melodien, Harmonien und Arrangements, gelegentlich opulent bis zur Orchesterstärke, Bläser und Streicher inklusive – man kann sich des Eindrucks mitunter nicht erwehren, als habe da einer viel Burt Bacharach gehört.

Was bei allem, was dieser Großmeister des anspruchsvollen zeitgenössischen Popsongs in seiner langen Karriere an ewigen Klassikern von Dionne Warwick bis The Carpenters produziert hat, ja eigentlich auch die richtige, weil amtliche Messlatte ist! Nicht dass Niels Frevert da nun auch rundum mithalten könnte – aber er wagt den Versuch, und die Ergebnisse, die er in relativ langen Abständen immer wieder mal in einem Alben versammelt, sind aller Ehren wert. Und für hiesige Verhältnisse sogar mehr als das, nämlich von einem ganz ungewöhnlichen Niveau und vor allem einer ganz ungewöhnlicher Souveränität.

Nicht zuletzt: Paradies der gefälschten Dinge ist zu alledem auch noch für wiederholtes Hören gut! Dafür, dass sich das Album sofort in all seinen Feinheiten erschließen könnte, ist es zu schräg, geht es in Niels Freverts Welt mitunter ein bisschen zu verkorkst zu. Aber je öfter man hinhört, an je mehr Stellen man noch einmal genauer aufs Detail achtet, als desto komplexer und reicher erweisen sich die erzählten Geschichten. Desto mehr Material findet der Hörer zum Andocken. Ein Glücksfall in nahezu jeder Beziehung. 

AUG 2014  Steffen Kolodziej, Saarbrücken

Salli Sallmann - Sallmann:Mühsam

Am 10. Juli 1934, also ziemlich genau vor 80 Jahren, wurde im KZ Oranienburg bei Berlin Erich Mühsam ermordet. Ein Linker, womöglich ein Anarchist, jedenfalls ein Dichter, der auch an den Wirtshaustischen willkommen war – weil er klares Deutsch sprach und schrieb. Wohl deshalb und wegen seines Werdegangs und seines Rufs als „Volkstribun“ haben ihn die Nazis besonders gehasst.

Er gehört zu jenen deutschen Dichtern, deren Texte in Westdeutschland nach dem Krieg keine besonders großen Auflagen erreichten: ein antimilitaristischer Publizist, der an der Ausrufung der Münchner Räterepublik beteiligt gewesen war und dafür fünf Jahre in Festungshaft gesessen hatte – da stellte man sich auch als Spätgeborener lieber den Tucholsky ins Regal und wars zufrieden.

In der DDR dagegen scheint man ein besseres Ohr gehabt zu haben für seine Attacken gegen bürgerliches wie linkes Pharisäertum und, wichtiger noch, für seine stets präsente Verzweiflung über die real nicht erfüllten Sehnsüchte nach Gerechtigkeit und einer besseren Gesellschaft.

„Ich bin ein Träumer, den ein Lichtschein narrt, der in dem Licht nach Golde scharrt;
der das Erwachen flieht, auf das er harrt.“
(Erich Mühsam: „Ich bin ein Pilger, der sein Ziel nicht kennt“)

Ende der Siebzigerjahre waren in der Folge der Biermann-Ausbürgerung neben vielen anderen auch Gerulf Pannach und Christian Kunert in den Westen entlassen worden – gegen Lösegeld, wie das zu der Zeit die Praxis war. Auch Michael „Salli“ Sallmann landete in diesen ganz besonderen deutsch-deutschen „Emigranten“zirkeln. Und schrieb und sang – in respektvoller Entfernung, aber durchaus auch bei gemeinsamen Gelegenheiten – von kalten Zeiten in der damaligen Gegenwart, und von alten Zeiten, die auch nicht besser waren – und die so singbar Erich Mühsam schon beschrieben hatte.

Was genau sich nun geändert hat in neunzig oder fünfunddreißig Jahren? Gute Frage, auf die es einfache und sehr viel weniger einfache Antworten gibt. Michael Sallmann ist jedenfalls heutzutage Dichter, Sänger und auch Literaturredakteur. Und er hat das Glück, ein paar musikalisch verwandte Seelen gefunden zu haben: die Sallmann Seltsam Band geht zwar nicht auf große Tournee, aber ab und zu ist sie schon mal live zu erleben.

Auf „Sallmann:Mühsam“ hat sie ihn jedenfalls tatkräftig unterstützt. Und schräg und kongenial ergänzt bei der Umsetzung einer Idee, die eigentlich nur im Wirtshaus entstanden sein kann, logischerweise: zum 80. Todestag (und kurz nach dem 125. Geburtstag) Erich Mühsam ein Ständchen zu bringen. Jenem Dichter, der Sallmann (und ein paar andere: siehe Pannach und Kunert) seit ihrer Jugend begleitet hat. Und den man heute eigentlich gar nicht mehr bekannt machen kann. Aber vielleicht könnte...

JULI 2014  Martin Steiner, Winterthur

Dominik Plangger - Hoffnungsstur

„Als ich ein Junge war“, das Eröffnungsstück des neuen Albums von Dominik Plangger: Es ist, als hätte man die Musik schon einmal gehört. Doch wo? Und von wem? Nein, der deutsche Sprachraum ist es nicht. Aufschluss bringt das dreizehnte Stücke der CD „If I Needed You“ von Townes Van Zandt. Richtig, die Lieder atmen die schwüle Luft von Texas, nicht diejenige von Paris oder Berlin. Das passt: Dominik Plangger stammt aus dem Vinschgau, dem äußersten Westen des Südtirols. Tief eingeschnitten im Tal, am Fuße des Stilfserjochs, liegt Stilfs, wo Plangger geboren wurde. An solchen Orten pflegen gewisse Leute rückwärtsgewandt, reaktionär zu denken. Im Schatten der Berge blühen die Schatten der Vergangenheit – ähnlich wie in Texas. Dort gibt es zwar keine Berge, dafür sind die bösen Mexikaner nah und Washington fern. Solche Orte sind ein Nährboden für gute Songwriter. Wer Lieder schreibt, kann Missstände anprangern und Gefühle ausdrücken. Und diese sind bei Texanern wie bei Südtirolern vielschichtig. „Texas When I Die“, der alte Countryhit, hieße bei Plangger wohl „Vinschgau wenn I stirb“.

Klar, der Südtiroler ist differenzierter, aber das „Almlied“, im heimischen Dialekt gesungen, ist doch arg sentimental. Das Lied ist auch zum Weinen schön, authentisch – und Planggers unvergleichliche Stimme jagt einem wohlige Schauern über den Rücken. Sie zwingt einem, vom ersten bis zum letzten Ton zuzuhören, sie ist angenehm, weich und doch dringlich, scharf und mit der richtigen Dosierung Melancholie. Selten hat ein deutschsprachiger Liedermacher so eindrücklich gesungen. Das Antikriegslied „Es ist an der Zeit“, geschrieben von Eric Bogle und übersetzt von Hannes Wader, ruft nach einem Vergleich: Wo Waders Stimme eher pathetisch wirkt, ist Plangger roher, schärfer. Thematisch liegt der Südtiroler nicht weit vom Deutschen entfernt. Die Sympathie gilt denjenigen am Rande der Gesellschaft: dem Afghanen, dem ewiggestrige Rassisten das Leben schwer machen („Mein Freund der Afghane“), den Dirnen am Ortsrand („Unten bei den Dirnen“) oder dem Straßenmusiker („Als ich ein Junge war“).

Das sind die Themen, die Townes Van Zandt oder Robert Earl Keane genauso beackern, direkt und ungeschönt wie Dominik Plangger. Und dann gibt es noch einen Bayern, der Solches ebenso schnörkellos und kraftvoll singt: Konstantin Wecker, der Mentor des Südtirolers. „Hoffnungsstur“ erschien auf Weckers Label Sturm & Klang. Planggers Album hat eigentlich nur eine „Schwäche“ – sein Songwriting orientiert sich kaum an aktuellen Trends. Die Produktion ist glasklar, im Vordergrund steht die Stimme, dahinter Planggers Fingerpicking, eine Pedal Steel, Dobro, Mandoline, einmal eine Ziehharmonika, Geige, ein Cajón und ein Klavier, alles sparsam eingesetzt – weit und breit keine Elektronik. Tönt alles ein wenig nach US-Folk der Sechziger und nach – na ja, Sie wissen schon. Und für gewisse Rezensenten wie den Unterzeichnenden ist das natürlich keine Schwäche. Der empfiehlt das Album ohne Einschränkungen.

JUNI 2014  Dieter Kindl, Kassel

Bots - fallen und aufstehn

Fünfunddreißig Jahre ist es her - da sind mir die Bots zum ersten Mal begegnet. In Frankfurt spielten sie damals bei Rock gegen Rechts. Obwohl die Niederländer in ihrer Muttersprache sangen, wussten sie nicht nur mich zu begeistern. Und als sie dann bei »Opstaan« ein paar deutsche Zeilen sangen gab es kein Halten mehr: 70.000 Menschen sangen gemeinsam mit den Bots "Alle Menschen, die ein besseres Leben wünschen, sollen aufstehen" - Band und Publikum befanden sich auf einer Wellenlänge.

Dieses Konzert hat auch den Ausschlag gegeben ein Album mit deutschen Texten zu veröffentlichen. 1980 erschien das erste, bis 1986 folgten noch drei weitere in der damaligen BRD. Den Bots haben wir unter anderem Songs wie »Sieben Tage lang«, »Das weiche Wasser« oder eben »Aufstehn« zu verdanken. Sie mischten sich mit ihren Liedern überall dort ein, wo sich Menschen zum Widerstand zusammenschlossen und waren prägend für die Anti-AKW- und Friedensbewegung.

Lange Zeit war es still um die Bots. 2007 starb zudem Sänger Hans Sanders, der den Stil der niederländischen Kultband wesentlich geprägt hat. Vor zwei Jahren haben die Bots begonnen an ihrem neuen Album zu arbeiten. Das Resultat, die CD »Fallen und aufstehn« zeigt, dass das Engagement der Band in sozialen Fragen ungebrochen ist. Die Texte sind, wie damals, engagiert und gesellschaftskritisch. Musikalisch wird das Ganze abwechslungsreich mit einer Mischung aus Rock mit Folk-, Reggae-, Country- oder Swingelementen untermalt.

"Lebe dein Leben, glaub, was du willst, aber rette mich nicht" heißt es im Opener des Albums, der, auch wenn es zunächst nicht so scheint, für mehr Toleranz untereinander wirbt. Um das "Miteinander" geht es auch im zweiten Stück »Wie das schön wär«. Hier wird die Vereinsamung der Menschen in der digitalen Welt angeprangert. "Du facebookst dich ins Delirium und du twitterst sogar auf"m Klo" zeigt deutlich unser verändertes Kommunikationsverhalten und lässt eigentlich nur eine Frage zu: was ist wirklich? Leben 2.0? Die Realität? Oder sind wir "gemeinsam... so einsam", wie es im Text des Liedes heißt?

Das folgende Stück widmet sich dann einer ganz besonderen Spezies von Mensch: dem »Anzugmann«, der, sobald er seine "Uniform" angelegt hat, ein ganz Anderer wird. Und diese Veränderung ist nicht immer von einen positiven Charakter geprägt. Gleiches gilt auch für die grauenvollen "Entertainer", die in »Die Karawane« ihr Unwesen auf den politischen Bühnen treiben. Ob Arbeit, Geld oder Status tatsächlich ein erfülltes Leben bedeuten, wird in »Burnout« beantwortet. Oder hilft vielleicht doch nur ein Besuch bei »Doktor Botox«, der alle Träume wahr werden lässt?

Apropos Träume: einige davon haben die Bots auch vertont. In »Ein Krankenschwester-Traum« geht es zum Beispiel um die Würde von Älteren oder Kranken. Und in »Da will ich wohnen« darum, dass man nur gemeinsam einen Ort zum Glücklichsein schaffen kann. Wenn aber die guten Vorsätze doch einmal über Bord gekippt werden, dann landen sie wohl auf der »Müllkippe der Zeit«.

Mit den Songs der Bots verhält es sich da ein wenig anders. Zumindest aus meiner Sicht. So heißt es in »Hans«, der Hommage an den ehemaligen Sänger der Bots: "Aufstehen für Träume, wir machen sie wahr! Auch wenn er nicht mehr singt und die Stimme des Sängers nie mehr erklingt, war das, was er sagte, noch niemals so klar." Das gilt auch für das neue Album der Bots »fallen und aufstehn«. Die neuen Lieder darauf sind, ebenso wie die alten, hochaktuell. Mich jedenfalls freut es, dass die musikalischen Heroen meiner Jugendzeit nun wieder aktiv sind. 

MAI 2014  Mike Kamp, Bad Honnef

Günter Gall mit Konstantin Vassiliev - Soldaten - Leben

Lieder von Krieg und Frieden aus fünf Jahrhunderten; Lieder und Gedichte (plus vier Gitarrenkompositionen von und mit Konstantin Vassiliev) vom 30-jährigen Krieg bis zum 2. Weltkrieg; Lieder also, die den Krieg selten explizit kritisieren, sondern ihn lediglich in seiner ganzen unfassbaren Grausamkeit schildern. Günter Gall ist sozusagen ein Veteran der Folk- und der Friedensbewegung und daher wie kaum ein anderer dazu geschaffen, eine solche Konzept-CD glaubhaft zusammenzustellen und auch den Widerstand gegen Krieg und alles, was ihn ausmacht, nicht zu verschweigen.

Mit fehlt in der Sammlung lediglich ein wenig der aktuelle Bezug, den Gall in seiner kurzen Einführung im Beiheft sehr wohl herstellt, weil eben dieses Deutschland als ausgesprochen prominenter Waffenlieferant Kriege weltweit unterstützt und überdies die sogenannte Verantwortung übernimmt, seine Soldaten wieder weltweit einzusetzen. Mord made in Germany, das ist der heutige Skandal und hoffentlich ein Thema für eine andere CD. Das generelle Paradox jedoch ist, dass viele Menschen schon immer gegen Kriege gesungen haben und sich dann trotzdem für die Interessen der Mächtigen verheizen lassen. Dieser Widerspruch darf niemanden davon abhalten, gegen Kriege und Waffen zu opponieren, immer und immer wieder. Günter Gall tut es auf seine Art und er macht es nicht nur gut, er macht es sehr gut! 

APR 2014  Michael Kleff, Bonn

Molden, Resetarits, Soyka, Wirth - Ho Rugg

Ich will mein Urteil gleich an den Anfang stellen: ein Meisterwerk! Alle vier Mitwirkenden dieser CD sind Musikfreunden aus unterschiedlichen Zusammenhängen her ja seit langem bekannt: Ernst Molden (Gesang und Gitarren), Willi Resetarits (Gesang und nicht zu vergessen: Ukulelen), Walther Soyka (Harmonika und Gesang) und Hannes Wirth (Gitarren und Gesang). Molden und Resetarits sind zudem keine Unbekannten in der Liederbeste. Auch wenn die Musik und die Texte aller Titel auf Ho Rugg aus der Feder von Ernst Molden stammen, so ist die CD dennoch hörbar ein Gemeinschaftswerk. „Erzähl mir nicht, dass du als gebürtiger Sauerländer mit Wahlheimat Rheinland den Wiener Dialekt verstehst“, wird er eine oder andere jetzt vielleicht einwerfen. Stimmt. Tue ich auch nicht. Aber Molden, Resetarits, Soyka und Wirth präsentieren ihre Lieder in einer Weise, dass es ausreicht, nur einige wenige Worte der Textzeilen aufzuschnappen, um den Sinn und die Stimmung von Moldens Geschichten beim Hören zu „erfühlen“. Und diese Stimmung, das ist eine geniale Mischung aus schwarzem Blues und weißem Wienerlied.

Mit seinem kratzig-rauen Gesang erweist sich Molden einmal mehr als Chronist einer Stadt, die mehr Provinz als Metropole ist, und die irgendwie aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Meist rein akustisch gestaltet – wobei hier und da vor allem Wirths Elektrische dann doch mal loslegen darf –, geht es in jedem Titel von Ho Rugg um die dunkle Wiener Seele, die gerade deswegen irgendwie voller Leben ist, und um die mit der Donaustadt verbundenen Klischees, die sich bei Molden aber irgendwie als allgemeingültige Wahrheiten entpuppen. Besonders schön: wenn Molden und Resetarits gemeinsam singen. Gerade das auf den ersten Blick Unterschiedliche in ihren Stimmen schafft eine wunderbare Klangharmonie. Zum Beispiel bei „Rudschduam“. Hier geht es um die alte Legende vom herausstehenden Span im Toboggan im Wiener Wurstelprater: „Und dea foad da duach dei Hosn, und dea foad da duach dei Lem“. Der Toboggan ist eine Art Rutschturm, der 1913 unter dem Namen Teufels Rutsch eröffnet, 2000 wegen Baumängeln geschlossen und vor fünf Jahren wieder eröffnet wurde. Und um ein Liebeslied er anderen Art geht es bei „Da Neisiedla See“. Wenn man sich dort küsst, geht es einem schnell besser, auch wenn man sich vorher hundeelend gefühlt hat: „Und i bigg da meine Lippn auf dein Mund / und noch ochd bis zehn Minutn / geds da wieda deitlich bessa.“ Wie schon auf früheren Veröffentlichungen „besucht“ Molden in seinen Liedern ihm ans Herz gewachsene oder im Gegenteil eher unliebsame Plätze seiner Stadt. „Do is entrisch und koed“ heißt es in „Drom En Noadn“ über das im Norden der Stadtgrenzen gelegene Waldviertel. An die Ufer der Donau führt „Grizznduaf Zwaadosndzwaa“: „Am Boch schreid a grantiga Mau“. Und – wen wundert‘s bei einem Wiener –, auch das obligatorische Lied über den Tod darf nicht fehlen. Zwar wird nicht wie bei Wolfgang Ambros auf dem Zentralfroedhof gefeiert, aber auch bei Moldens „Da Dod“ ist die Stimmung nicht schlecht. Dazu trägt bei, dass sich alle vier Musiker hier mit Gesangsbeilagen beteiligen: „Und daun lochd a wäu so is a da dod“. Und irgendwie schließt sich hier der Kreis auch in Bezug auf die Liederbestenliste: War Ernst Molden doch mit seinem Lied über den Gegenspieler von Gevatter Tod vor drei Jahren Spitzenreiter: mit dem Titelstück seiner CD Es Lem. 

MÄRZ 2014  Ingo Nordhofen, Witten

Jürgen Schwab - Luftschlösser

Fangen wir mal mit dem Negativen an: Das ansprechend gestaltete Digipack enthält kein Beiheft mit Texten und näheren Informationen zu den Musikern, die nur im Innendeckel gelistet sind. Trost: Auf der Internetseite findet man die Texte dennoch, unter CDs.

Aber jetzt unbedingt zum Positiven! „Endlich mal wieder ein Singer/Songwriter deutscher Sprache, der ... einfach aufmerksam seine Umgebung beobachtet und konkrete, nachvollziehbare und damit glaubhafte Lieder macht“, war 2010 im Musikmagazin Folker über Schwabs erstes Album als Liedermacher zu lesen gewesen. Das kann man nur unterstreichen.

Gitarrist Jürgen Schwab kommt vom Jazz und hat mit vielen Größen der Jazzszene zusammengespielt, aber auch als Hörfunkjournalist, Hochschuldozent und Fachbuchautor (Die Gitarre im Jazz und Der Frankfurt Sound) reüssiert.
Nun also Schwabs zweites Album als Singer/Songwriter. Es enthält zehn Songs und ein Instrumental. Alle Texte und Musik einschließlich der Arrangements stammen von ihm. Für dieses Projekt hat er sich mit einer Reihe hervorragender Musikerkollegen verstärkt. Da fällt z. B. Bassist Hanns Höhn auf, der im optimistisch gestimmten jazzigen Eingangsstück „Ein neuer Frühling“ im Stil an den großen Jaco Pastorius erinnert. Dabei fängt das Stück im schönsten „Wader-Picking“ an. Im Kontrast dazu das folkige „1000 Kilometer“ mit stimmungsvollem Cello (Sophia Weiß) zur Gitarre, gefolgt vom luftig leichten, doch nie seichten, Titelstück, verziert mit unaufdringlichen Farbtupfern durch Oliver Leichts AltKlarinette. Dann „Auf Flügeln aus Papier“, ein Chanson über die Faszination des Lesens, das Fantasie und Imagination beflügelte, als man jung war. Heute, im Alltagstrott, empfiehlt Schwab, das Lesen wieder aufzunehmen, um verlorenes Land zurückzugewinnen. Im satirischen „Waschmaschinen“ prangt er den Wahn an, sofort auszutauschen statt zu reparieren. Machen wir das letztlich auch mit unserem Globus?, sinniert er am Ende. „Schwarzweiß“ besingt Erinnerungen an die Kindheit, aber eben „nur in Schwarzweiß“, wunderbar formuliert als „Jahre der Märchen und Wunder“, wieder sehr schön einfach zu Gitarre und Cello.
Dann kommt eines der stimmigsten Stücke dieser CD: „In diesem Augenblick“, wiederum jazzig, wieder dieser Pistoriusbass sowie ein pointiertes Saxofon (Tony Lakatos). Das Arrangement erinnert an Stücke aus Joni Mitchells Album Hejira (1976). Ein Loblied oder auch Liebeslied auf den Jazz, der uns entführt in wundersame Gefilde, „und es geschieht in diesem Augenblick“, dorthin, wo „die Bluenotes blühen, hauchzart und ungestüm“. Das ist fantastisch formuliert! Mit dem Chanson „Inmitten der Lagune“ entführt Schwab uns nach Venedig, um dann in „Sommerwind“ gute Laune an einem Sonnentag zu beschreiben. Wieder Wader-Picking, wieder wunderbare Formulierungen („Komm endlich, Sonne, hier ist mein Bauch!“), dazu die herrliche Wortschöpfung „Zufriedenheitsnobelpreis“. „Ohne Worte“ ist genau das, ein Instrumental auf der Gitarre, das in seinem etwas schleppenden Rhythmus gut zum vorangehenden Song passt, wohlig wie ein warmer Sommerabend. Auch hier kein Versuch übertriebener instrumenteller Virtuosität. Die Stimmung ist das Wichtige. Das Schlussstück „ So long, Fritz“ hat Kollege Michael Laages in seiner Liedempfehlung im Februar gewürdigt, daher sei hier nur Biber Herrmanns stimmungsvolle Slidegitarre erwähnt, die das Stück würzt.
Ein thematisch weitgefächertes Album mit einem herrlichen Mix aus Jazz-, Folk- und Chansonelementen, eingespielt mit hervorragenden Begleitmusikern, dazu Jürgen Schwabs brilliantes Gitarrenspiel und seine warme Stimme, mit der er völlig unaufgeregt, zuweilen fast schon im Plauderton, uns Hörer in seinen Bann zieht. Effekthascherei hat er nicht nötig. Sowohl mit seinen Formulierungen als auch mit den Arrangements schafft er es, atmosphärische Dichte aufzubauen. Ein durchweg stimmiges und berührendes Album, sowohl musikalisch als auch bei den Texten von hoher Qualität, dem ich viele aufmerksame Hörer wünsche.

FEB 2014  Matthias Inhoffen, Stuttgart

Chris Kramer – Unterwegs zur Sonne

Deutsche Texte – das war extrem uncool, als Rock, Blues und psychedelische Experimente vor über vierzig Jahren wie eine mächtige Welle über den Atlantik schwappten. Der Sound des Hedonismus, der Rebellion, der trotzigen Selbstbehauptung gegen jegliche Konvention wollte so gar nicht passen zu dem deutschen Idiom. Das wurde als rückwärtsgewandt empfunden, als steif, war obendrein belastet durch eine damals als politisch anrüchig empfundene Heimatbezogenheit.

Neben den Liedermachern gehörte eine Bluesband wie Das Dritte Ohr zu den ersten, die aus solchen Schubladen herauskrabbelte und deutschsprachige Verse als Ausdruck von Echtheit und Natürlichkeit begriff. Es ging nicht darum, sich in Verliererpose zu werfen und Zeilen zu singen wie "Ich bin so einsam, ich könnte weinen" oder "Heute morgen bin ich aufgewacht und mein Baby ist fort". Wie viele Lieder widmen sich seit jeher den Gestrauchelten und Gescheiterten, denen, die auf der Schattenseite des Lebens stehen. Da bietet der Blues mit seinem Taktschema und den mal zornigen, mal melancholischen Melodien doch einen maßgeschneiderten musikalischen Rahmen an. Und an originellen, findigen Verseschmieden fehlt es hierzulande wahrlich nicht.

Einer von ihnen ist Chris Kramer. Der Typ mit der authentischen Lederkapp singt seine Songs mit sympathisch angerautem Organ, er spielt Mundharmonika und Dobro, gelegentlich auch Banjo, Slidegitarre oder "Küchenschlagzeug". So ist der Bergarbeitersohn aus dem Ruhrpott jetzt unterwegs zur Sonne, begleitet von einer klasse Stammband, zu der Bassist Martin Engelien, Schlagzeuger Charly T. und Gitarrist Dennis Hormes gehören. Ihnen schließen sich immer wieder illustre Gäste an, so Simple-Minds-Drummer Mel Gaynor im "Gangster Blues" oder Keyboarder Chuck Leavell, begehrter Sideman von Eric Clapton, Allman Brothers und Rolling Stones, in zwei Titeln. Kramer zieht mit ihnen durch eine Klanglandschaft mit vielen Kulissen. Er schnaubt wie eine Dampflok durch hitzigen Chicago-Blues ("Unterwegs zur Sonne", "Könige der Sonne"), schaltet einen komplex geschalteten Blues-Rock-Motor an ("Gangster Blues"), kommt fast ohne elektrische Verstärkung dahergeschlendert ("So weit das Auge reicht", "Wind in unseren Segeln"), swingt relaxt im wortlosen "Isil Calad" oder fesselt durch geschickte Steigerungen im ausgedehnten Slow-Blues "Bis wir uns wiedersehen".

Kramers Verse sind so unaufgeregt, so unverfälscht und wirklichkeitsnah, dass man sie einfach mögen muss. Der Mann aus dem Ruhrgebiet ist Entertainer und bekennender Geschichtenerzähler, und seine Fantasie kennt zum Glück auch Grenzen. Er singt von Verlierern und Lebenskünstlern, er regt zum Lachen und zum Weinen an oder zu beidem gleichzeitig. Sein Humor wird sicher nicht nur von Männern verstanden. Seine Liebeserklärungen an Frauen berühren nicht nur die Herbeigesehnte, seine Sozialkritik hat immer einen klaren Anlass. Letztlich will Chris Kramer, so mein Eindruck, nur ein echtes Leben führen. Das sieht, in seinen eigenen Worten, etwa so aus:
„Meine Sehnsucht rast viel schneller
als Dein Auto vor der Tür.
Du irrst durch dein Hamsterrad
wenn ich meine Seele spür.
Mein Instinkt bringt keine Zinsen,
er schärft nur meinen Blick.
Meine Leidenschaft, die bringt mich
überall hin und zurück"
(aus "Unterwegs zur Sonne").

JAN 2014  Hans Reul, Eupen, Belgien

Stoppok - Auf Sendung (solo)

Bei ihm ist „Alles klar“. Mit diesem Statement beginnt das aktuelle Stoppok-Album, ein Best-Of-Album der etwas anderen Art. Glücklich, wer wie Stoppok dies so überzeugend sagen kann. Stoppok ist ein Mann, der mit sich im Reinen ist, der seinen Weg geradlinig geht und uns dank seiner Lieder dabei ein Stück weit mitnimmt.

Auf Sendung (solo) ist mehr als eine CD, es ist vor allem eine DVD, aufgenommen im Studio-Nord in Bremen. Hier erlebt man Stoppok pur! Solo (mal abgesehen von sehr beeindruckenden Duos mit Pohlmann und vor allem einer wunderschönen Duoversion mit Astrid North von Leise. Dies macht das Album so besonders. Man hat das Gefühl, Stoppok ganz intensiv zu erleben, seiner schnoddrigen Art wie bei einem Privatkonzert beizuwohnen. Was zu den sonstigen Auftritten fehlt, sind die unverwechselbaren Moderationen zwischen den Stücken. Dass die Bilder in Schwarz-Weiß gedreht sind, gibt ihnen eine eindringliche Kraft. Alles ist auf das Wesentliche reduziert und gleichzeitig ist alles da: Die Texte, die einen schmunzeln und lachen lassen aber auch berühren. Stoppok hat eben(d) bei allem bissig-lakonischen Humor auch eine unverwechselbare poetische Ader.

Wer noch Zweifel an Stoppoks musikalischem Können haben sollte, kann sich hier vom Gegenteil überzeugen. Was der Mann aus seinen Gitarren und den Rhythmus-Utensilien herausholt, lässt einen eine begleitende Band vergessen. Und für alle Gitarristen gibt es im Bonus-Material der DVD noch die Tipps zum selber Ausprobieren.

Diese CD/DVD zeigt nochmals die ganze Bandbreite und Originalität Stoppoks. Ein idealer Einstieg für alle Nicht-Stoppok-Kenner und ein Wiederhören für alle Fans. Und wenn er am Ende der Aufnahme des immer wieder großartigen „Learning By Burning“ – allein schon wegen dieses Lieds gebührt Stoppok der ihm jüngst offiziell zugesprochene Deutsche Musikautorenpreis – meint, „Nochmal schaff" ich das nicht“, wissen wir es nach zahlreichen Konzertbesuchen besser: Natürlich schafft er das. 

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