Persönliche Empfehlung Album

Reihum gibt eine/r der JurorInnen in dieser Rubrik ihre/seine persönliche Empfehlung für ein Album ab und begründet diese schriftlich.

DEZ 2017  Silke Aydin, Emsdetten

Bettina Wegner: Was ich zu sagen hatte -

Anlässlich ihres 70. Geburtstags hat Bettina Wegner eine Zusammenstellung ihrer Lieder auf fünf CDs veröffentlicht. Als Geschenk für sich selbst gedacht, ist diese CD-Box doch mehr noch ein Geschenk für uns Hörer. Sie und ihr Musikerfreund Karsten Troyke haben 120 Lieder ausgewählt und liebevoll verpackt: bisher unveröffentlichte Aufnahmen, Konzertmitschnitte inklusive Ansagen und einleitenden Geschichten, jiddische und hebräische Stücke, bekannte Klassiker. Dazu gibt es noch Lieder, in denen ihre unverwechselbar eindrückliche Stimme gemeinsam mit Konstantin Wecker, Karsten Troyke oder Angelo Branduardi erklingt.

Bettina Wegner ist sich in ihrem Schaffen immer treu geblieben, hat sich nie dem Markt unterworfen. Kämpferisch und mutig hat sie stets gegen Ignoranz und Gleichgültigkeit angesungen. Für Frieden, Gerechtigkeit, Freiheit und Liebe. Auf ihren mittlerweile wenigen, ausgewählten Auftritten schenkt sie auch heute noch Kraft und Hoffnung durch ihren Gesang. Denn die Themen ihrer Lieder sind - oftmals leider! - zeitlos aktuell.

Deshalb gibt es bei der CD-Box auch keine zeitliche Zuordnung der Stücke, sondern eine thematische Zusammenstellung. Jede CD trägt einen Untertitel, der sich aus einer Liedzeile ableitet. Dabei sind die Grenzen, welches Lied man nun welchem Thema zuordnet, teilweise auch fließend, dennoch hier mal ein kleiner Überblick:

CD 1 trägt den Untertitel »Fleißig Reichlich Glücklich« und beinhaltet gesellschaftskritische Stücke: die soziale Kälte der Menschen untereinander, die moderne Leistungsgesellschaft, Doppelmoral und Heuchelei, Verrat durch Freunde. Das letzte Lied dort ist »Mir fällt ein…«. Es handelt von Bettina Wegners schwieriger Zeit des Umherreisens und Auftretens in Ost- und Westdeutschland, die schließlich in der Vertreibung aus ihrer Heimat endete.

»Heimweh nach Heimat«, ein Stück auf CD 2, greift dieses Thema wieder auf: Vertrieben und nie wirklich angekommen. Wurzellos sein. Der Untertitel der zweiten CD »War voll von Liebe« (aus »Ikarus«) nennt dann auch schon das Hauptthema dieser CD: Liebe. Liebe für ihre Kinder, für die Heimat, für die Menschen, für die Welt. Das Stück »Cool sein« ist z. B. ein Plädoyer für Offenheit, sich nicht zu verstellen, ehrliche Gefühle zu zeigen statt Fassade: „… wer nicht leiden kann, ist tot. Nur wer Trauer kennt, kennt Glück“.

Die dritte CD »Ich will ein Vogel werden« vereint Lieder, die durch Kritik und Ansprache etwas bewirken möchten. Dass die Opfer der NS-Zeit nicht in Vergessenheit geraten (»Für die aus…«). Dass wir unsere Kinder nicht belügen (»Sie hat’s gewußt«). Dass wir uns nicht für Geld und Ruhm verbiegen lassen (»Dynamo Tango«).

CD 4 »In Niemandshaus hab ich ein Zimmer« thematisiert Zerrissenheit und die Liebe unter den Menschen. Da ist zum einen das Lied für Bettina Wegners kleinen Großneffen Vincent, der schon als Kleinkind verstarb. Zum anderen die Nachdichtung »Man sagt« (Original: The Rose) …

Die fünfte CD »Tanz mich bis zur Liebe Schluss« stellt die finale Frage: Was bleibt am Ende?

Da antworte ich doch gern mit Mr. Cohen: Dance me to the end of love. Musik, Liebe, Tanz. Mehr braucht es (manchmal) nicht.


Weitere Informationen:
www.bettinawegner.de

NOV 2017  Ingo Nordhofen, Witten

Martin Herrmann: Fünf Lieder / Wetter schön [EP]

Martin Herrmann heißt der Mensch, dessen Werk(e) ich heute empfehlen möchte. Geboren wurde er in Bayern, wann genau gibt er nicht preis. Auf jeden Fall vor 1991, denn zu der Zeit erhielt er den Förderpreis des SWF (heute SWR), dem bis heute noch einige folgen sollten. Heute lebt er in Baden-Württemberg. In den Neunzigern arbeitete er “nebenher“ als Lehrer (Sport und Biologie), von 2004 - 2007 war er Redakteur der zweiten Generation des Satiremagazins »Pardon«.

Zwei EPs möchte ich heute empfehlen, was mit insgesamt elf Stücken letztlich dem Umfang einer durchschnittlichen CD entspricht. Es handelt sich um Wiederveröffentlichungen älterer Stücke, die nun endlich auf CD erhältlich sind. Es sind Livemitschnitte.

Herrmann ist Einzeltäter – er begleitet sich selbst auf seiner Gitarre, sonst braucht er nichts, zumindest während des Auftritts. Er bevorzugt das Ragtime Picking, beherrscht aber souverän auch andere Rhythmen. Dazu spricht und/oder singt er seine Stücke, eine Mischung aus klassischem witzigem Lied und Standup-Comedy, bei Letzterem jedoch weit über dem Niveau üblicher Standup-Comedians.

Absurde, skurrile Themen behandelt er, wie z.B. in »Max (Eine Bandwurmballade)« oder der »Vampirballade« oder auch in »Lass mal Fünf grade sein« zeigen. Nach kleinen, fast versteckten Anspielungen in der Ansage folgen Sprachwitz erster Güte, gekonnte, unerwartete Reime und ebensolche Pointen zuhauf, dargebracht mit der für ihn charakteristischen Süffisanz und seinem markanten rollenden R. Das hat Qualität, ist mitunter auch mal politisch (ohne sich mit der Tagespolitik aufzuhalten), wirkt nie platt, wird nie langweilig – im Gegenteil, von diesem gezielten Angriff auf die Lachnerven möchte man immer mehr erleben. Und obwohl es sich um Wiederveröffentlichungen handelt, sind alle Stücke auch heute noch gültig, was ebenfalls ein Merkmal ihrer Güte ist.

Martin Herrmanns Tonträger sind über seine Homepage zu beziehen, und ich hoffe sehr, dass meine Empfehlung diesem wunderbaren Künstler viele Zuhörer und auch Kunden beschert.


Weitere Informationen:
www.martinherrmann.info

OKT 2017  Michael Lohse, Köln

Eric Pfeil: 13 Wohnzimmer

So kann man auch Geschichte schreiben: Das neue Werk von Eric Pfeil ist das erste Album der Popgeschichte, das ausschließlich in fremden Wohnzimmern aufgenommen wurde. Die ersten drei Monate des Jahres ist der Kölner Musiker durch 13 deutsche Städte getourt, von Hamburg bis Oberammergau, um dort jeweils ein Konzert zu geben. Nicht in der Stadthalle, sondern in dem, was man zur Hochzeit des Bürgertums den Salon genannt hätte, nur dass der Wohnungsbau der Moderne so eine kulturelle Nutzung nicht mehr vorsieht. Für Pfeil hieß das: beengte Auftritte im Türrahmen oder auf Sofas und ein Mini-Publikum, das von den jeweiligen Gastgebern zusammengetrommelt wurde.

Und was sagt uns dieses Experiment? Ist es mehr als ein netter PR-Gag? Um es kurz machen: Ja, in der Tat, auch wenn die Musikgeschichte schon größere Revolutionen gesehen haben mag. Um Pfeils Intentionen zu verdeutlichen, muss man ihn nur zitieren, schließlich weiß der Kolumnist des »Rolling Stone« selbst am besten, wie man über Popkultur schreibt: „Es sollte eine Platte werden, die nicht nach zig Takes im Studio, Sound-Begradigung und technischer Amtlichkeit klingt“, heißt es im Booklet. Und von der Suche nach Momenten ist dort die Rede, „die einem gerade deshalb so ans Herz wachsen, weil sie am Perfekten vorbeischrammen.“

Damit zeigt Pfeil einen Mut zur Verweigerung, die »13 Wohnzimmer« bemerkenswert machen. Hier will sich einer wieder aufs Wesentliche konzentrieren in einer Zeit, in der die Prä-Demenz der Smartphone-Süchtigen grassiert. Nur Basics sind erlaubt: akustische Gitarre, Gesang und natürlich brillante Texte, bei denen sich wie an einer Kette aphoristische Perlen wie diese hier aneinanderreihen: „Um einen Sarg zu tragen, braucht man vier Leute, zum drinnen liegen nur einen.“

Die Songs sind nackt, Demo-Versionen bei weitgehendem Verzicht auf Arrangements, reduziert auf ihren kreativen Kern und ohne Inanspruchnahme nachträglicher studiotechnischer Schönheitschirurgie. Es gibt nur einen Take und der gilt. Viele Stücke seien, so Pfeil, erst kurz vor der Aufnahme fertig geworden. Ganz bewusst will der Liedermacher die Nervosität, das Premierenfieber nutzbar machen, um eine besondere Intensität zu erzeugen, die in der programmierbaren Tonstudio-Beliebigkeit zu oft verloren geht. Das Publikum quittiert die Darbietung spontan, egal ob mit spärlichem Applaus oder anfeuernden Rufen. Dieses Experiment kann man rückwärtsgewandt nennen. Und Pfeil selbst gibt im Opener unumwunden zu: „Ich bin ein Mann aus dem letzten Jahrhundert“. Seine Heroen waren unüberhörbar eher die anglo-amerikanischen Songwriter der 1960er und 70er Jahre als die DJs und Rapper des neuen Jahrtausends. Doch bei ihm hat die Pflege dieses Erbes so gar nichts erstarrt Museales. Er lüftet tief durch, spinnt Topoi und Motive von damals weiter und reflektiert sie in windschiefen Variationen. Statt „Heute hier morgen dort“ singt er „Ich bleibe erst mal hier, ich bleib ganz gleich was war, den ganzen Januar, den ganzen Februar und vielleicht das ganze Jahr.“ Die Zutaten sind dieselben wie bei Wader, doch er mischt sie neu zu einem surrealen "Post-Waderismus". Oder er schreibt eine Zeile wie „Die Zeiten werden härter, aber ich, ich bleibe weich“ (»Wecken«) die wie ein Nachklang von Biermanns »Du lass dich nicht verhärten« wirken. Dabei findet der 1969 in Bergisch Gladbach geborene für seine Mittvierziger-Grübeleien stets eingängige Bilder und Formeln, die sich im Kopf festhaken: „Nein der Feind ist nicht der Tod, der Feind ist nicht die Zeit, der Feind ist die Vergeblichkeit“ singt er in »Im regenärmsten Tal der Welt«.

Allen ernüchternden Befunden zum Trotz ziehen einen Pfeils Gesänge niemals runter, davor schützt schon sein absurder Witz. Wenn er etwa eine schräge Geschichte von zwei Statisten in einem Italo-Western erzählt, die gegen ihre geplante Erschießung rebellieren (»Zuckergewehr«) oder wenn er die Aufarbeitung einer verfahrenen Beziehungskiste (»Kino«) in der recht überraschenden Schlussfolgerung gipfeln lässt: „Es liegt daran, dass wir nicht mehr ins Kino gehen“.

Bei manchen Songs zwar bleiben die Themen allzu vage, wirken die Assoziationen nur notdürftig zusammengehalten vom Schrammelkorsett des Viervierteltakts. Dann ermüden die scheinbar unablässig Pfeils Phantasie entspringenden schiefen Metaphern ebenso wie sein allen großen Emotionen misstrauender Gesang. Doch der "Mann aus dem letzten Jahrhundert" ist Profi genug, um an den entscheidenden Stellen für Abwechslung zu sorgen: mal weckt einen ein Background-Chor aus der Lethargie, mal entfachen Geige und Akkordeon etwas Lagerfeuerglut. Und oft entfaltet gerade die Monotonie eine besondere Magie. 13 Wohnzimmer – alles in allem ein Pfeil der ins Schwarze trifft. .



Weitere Informationen:
https://eric-pfeil.squarespace.com

SEPT 2017  Steffen Kolodziej, Saarbrücken

Jens-Paul Wollenberg: Die Lœwenzahnjahre 1990-2004

Ok. Macht man eigentlich nicht. Einen Sampler empfehlen. Wo es doch sooo viele Originalalben gäbe, die man empfehlen könnte. Und die es lohnte, zu empfehlen... Ja, klar doch.

Und dennoch: wenn einem ein Sampler ins Haus schneit, ein Doppelalbum auch noch, das einen beim ersten Ton gleich aufhorchen lässt: Kenne ich das? Hab ich das schon mal gehört? Hab ich das verpasst? Vergessen? Verlegt? Und dann ungeheuer neugierig macht auf die anderen Stücke, die da noch kommen werden ...

Natürlich hat man schon mal was von Jens-Paul Wollenberg gehört. Vielleicht nicht in den Siebzigern und Achtzigern, als seine Bands verboten waren und die DDR ganz weit weg. Zugegebenermaßen auch nicht unbedingt in den Neunzigern, als die Neufünfländer immer noch weit entfernt waren und Leipzig geradezu ein fremdes Universum. Obwohl: da wehte schon mal was von Pojechali herüber. Und dann auch in den Zweitausendern, und spätestens der Singende Tresen ist dann auch richtig durchgedrungen.

All das kann man auf diesen beiden CDs nun erleben, oder wenigstens nachhören - erleben geht nur live (ab Herbst in Deutschland). Also nachhören: und dabei eine Reise unternehmen mit den Ohren (und dem Hirn) und wippenden Füßen. Nicht bis in die siebziger Jahre, aber immerhin bis zurück ins Jahr 1990. Und staunen: über die Themen, die Texte, die Bilder. Die Stile, die Grooves, die Instrumente. Die Vielfalt. Die nur vereinzelt vorhandenen Staubkörnchen und Spinnweben ...

Mag sein: der Kenner holt jetzt die Original-CDs aus dem Schrank und haut sie mir um die Ohren. Macht nix. Ich unternehme derweil eine kompakte Reise durch die Jahre zwischen 1990 und 2004 mit Wollenbergs verschiedenen Projekten. Und staune. Was es alles gab. Was so alles ging. Was alles so schnell vergessen war. Und freue mich auf sein nächstes Projekt ...


Weitere Informationen:
https://de.wikipedia.org/wiki/Jens-Paul_Wollenberg
www.loewenzahn-verlag.com/lied-chanson/jens-paul-wollenberg-die-loewenzahnjahre-1990-2004.html

AUG 2017  Barbara Preusler, Reinach B/L

Florian Schneider mit Adam Taubitz: Schangsongs 2

Begeistert erzählte mir Florian Schneider im vergangenen Jahr von Tom Waits" Texten. Begeistert liess er sich von Waits inspirieren und übersetzte viele seiner Songs in die Baselbieter Mundart (Basel-Land). Es entstand die CD »Schangsongs 2«.

Sehnsucht und Poesie sind Schneiders Beziehungspunkte zu Waits. Beide schreiben Lieder, beide sind Schauspieler und Sänger. Auf den grossen Bühnen der Schweiz und Deutschland war Florian Schneider ein gefeierter Star (z. Bsp. »Phantom der Oper«). Doch er wollte näher bei den Menschen sein. Er begann Lieder zu schreiben und kleinere Bühnen zu bespielen. Florian Schneider gibt nicht den verruchten, einsamen Wolf mit der rauchigen Stimme wie Waits. Er versucht löblicherweise nicht, das Gesamtkunstwerk Waits zu kopieren, sondern er verwandelt Waits" Werke zu seinen eigenen Liedern. Schneider präsentiert die Lieder sympathisch und herzlich. Sodass man gern ein Glas Wein mit ihm trinken möchte, um noch lange über seine Balladen zu plaudern. Es sind Lieder seiner eigenen persönlichen Sehnsucht geworden, Lieder seiner Phantasie und seiner Gedanken. Die Songs sind liebevoll erarbeitet und glaubwürdig umgesetzt. In Baselbieter Mundart gesungen, entwickeln sie einen besonderen Charme. »Rosemarie« (Original »Georgia Lee«) entwickelt für mich ein neues, abenteuerliches Hörgefühl. Mit seiner sanften und doch kräftigen, klaren Stimme kommt das Lied einem traurigen Volkslied nah. »Säg mers, Louise« (auf Hochdeutsch: Sag es mir, Louise, Original »Tell It To Me«) uns allen im Ohr und oft schon interpretiert ist zu einem neuartigen Lied geworden. Die Poesie bleibt in der Mundart erhalten.

Schneider berührt seine Zuhörer. Es ist griffig, wie und was er singt. Das sparsame Arrangement der einzelnen Titel unterstreicht seine Eigeninterpretation hervorragend. Unterstützt wird er einfühlsam und meisterlich von Adam Taubitz an der Geige. Die Gitarre spielt Florian Schneider selbst. Er verzichtet bewusst auf überschäumende Klangwelten.

Die dunklen Seiten in den Volksliedern sind immer wieder ein Thema für Florian Schneider, gibt es doch im Baselbiet so viele spannende Wälder und einsame Ortschaften. Da können einem schon mal dunkle Gedanken kommen. So ergab es sich, dass auf der CD noch 5 Moritaten vom Florian aufgenommen wurden sind. Es sind Geschichten aus seinem Dorf, den Nachbardörfern, dem Gemisch aus Erlebnissen und sagenhaften Überlieferungen. Glaubhaft und authentisch kommen die Lieder daher. Man nimmt teil am ländlichen Leid, an Lust und Wehmut. »Alts chalts Hus« (auf Hochdeutsch: Altes kaltes Haus) ist zum Beispiel so eine dunkle Familiengeschichte, dramatisch, sie lässt einen nicht "kalt".

»Schangsongs« (2016) war bereits ein sehr überzeugendes Produkt, mit »Schangsongs 2« legt Schneider mit 14 Übersetzungen und Moritaten nach. Für mich eine gelungenes Werk, um Dramatik und klassische Balladen daheim oder live beim Konzert zu geniessen.


Weitere Informationen:
www.florian-schneider.ch

JULI 2017  Harald Justin

Sibylle Kefer: Hob i di

Wer Poesie noch immer für Krampf im Klassenkampf hält, hat wahrscheinlich weder von Poesie, noch vom Klassenkampf etwas verstanden. Was die Sängerin und Gitarristin Sibylle Kefer, die dieses Album unter behutsamer Mitwirkung von Größen der Neuen Wienerliedszene wie dem Sänger, Gitarristen und Poeten Ernst Molden, dem Akkordeonisten Walther Soyka und Zitherspieler Karl Stirner in Wien einspielte, von Politik versteht, ist schwer einzuschätzen. Von Poesie, die im Privaten, das ja auch nicht so ganz unpolitisch sein soll, angesiedelt ist, versteht sie jedenfalls eine Menge. Jedenfalls dann, wenn man sich als Dialekt Unkundiger und lediglich hochdeutsch Sprechender nicht täuschen lässt von diesem weich-warmen Dialekt, in dem sie singt und der allemal hübsch poetisch klingt und Fremden schon per se als besonderer Verfremdungseffekt in Richtung dunkler poetischer Unverständlichkeit vorkommt. Wiener hören diese zwölf Lieder wahrscheinlich anders: Nicht als gekünstelte Poesie, sondern als Lieder, in den die Kefer halt so singe, wie „ihr der Schnabel gewachsen“ sei. Ob nun Poesie mit gekünsteltem Verfremdungseffekt oder als eher natürlich gehaltener Ausdruck von Alltagserfahrungen, den Liedern haftet allemal eine Wärme und melancholische Grundstimmung an, die geeignet sind, innerliche Verhärtungen aufzuweichen. So singt sie denn von Abschiednehmen, vom Traurigsein, von Begegnungen mit alten Freunden, von der Geschmeidigkeit der Katzen, vom Kartenschreiben und vom Schlaf („Schlof“) und seiner Kraft. Im Hintergrund knarzt mitunter dezent die E-Gitarre, Moll wird großgeschrieben, wo sich mitunter Wienerlied- und Jazzelemente begegnen, und wenn sie singt „d kaffeemaschin mocht blosn und /die kloane ko nit schlofm“, dann denkt man nur an die Vertrautheit dieser Situation und freut sich, dass es MusikerInnen gibt, die für eigene Alltagserfahrungen Worte finden, die nicht schablonenhafte Parolen sind.

 

Weitere Informationen:

www.sibyllekefer.at

 

 

JUNI 2017  Michael Laages

Kai & Funky von Ton Steine Scherben mit Gymmick: Radio für Millionen

Sie haben die Legende überlebt – und feiern auf sehr eigene Weise den vor gut zwei Jahrzehnten viel zu früh verstorbenen Helden einer Epoche, die lange vergangen zu sein scheint. Aber ist sie das wirklich? Kai Sichtermann und Funky K. Götzner spielten schon Bass und Schlagzeug mit Rio Reiser im Band-Projekt „Ton Steine Scherben“, gegründet vor über viereinhalb Jahrzehnten, mittendrin in den Echowellen der aufständisch-widerständigen Spät-Sechziger-Jahre; auf der jetzt von Sichtermann und Götzner initiierten Doppel-CD mit Liedern von Rio Reiser und aus dem „Scherben“-Repertoire stehen die provokativen und polemischen, aber immer extrem kraftvoll-persönlichen Texte von damals noch einmal auf dem Prüfstand. Und sie bestehen umstandslos den Test auf Gegenwärtigkeit und Zeitgenossenschaft.

Reiser (bürgerlich: Ralf Christian Möbius, Jahrgang 1950) wurde zum Poeten der Ausgegrenzten und Nicht-Privilegierten: Lehrlinge (so hießen Azubis damals noch!) in ausbeuterischen Ausbildungsverträgen, Arbeits- und Obdachlose, Menschen am Rand vom gutbürgerlichen Milieu deutscher Nach-Wirtschaftswunde-Zeit wurden für den Musiker und Song-Schreiber zu Zentren für den eigenen poetischen Horizont. Zugleich mischte er dieses Engagement für all jene, die viel zu selten zu Wort kamen, mit dem selbstquälerischen Blick nach Innen, auf Liebe und Einsamkeit. Die Zeit spielte immer mit - aber für ihn eben nicht, um hinter ihr die eigenen Verzweiflungen zu verstecken.

Das ist das große Lieder-Erbe des Rio Reiser; und die Freunde und Kollegen von damals beschwören es ganz sachlich und kompetent, ohne Gehudel und allzu viel Verehrung.

Das Ensemble um Sichtermann und Götzner bewährt sich auch live – das zeigt die zweite CD im aktuellen Doppelpack, die ein Konzert aus dem „Komm“ in Nürnberg dokumentiert, dort, wo Sänger, Schauspieler und Comic-Autor Gymmick (eigentlich Tobias Hacker) zu Hause ist. Er hat natürlich den schwierigsten Part – Lieder zu singen, die in der Erinnerung für immer dem Vor-Sänger Rio gehören. Dass Gymmick ihm nahe kommt, ist unüberhörbar; und die Produktion (inklusive Ur-Produzent Nikel Pallat) war mutig genug, neben den neuen Versionen alter Songs und neuen Liedern im alten Geist sogar ein originales Rio-Reiser-Demo unterzubringen. Spätestens da wird aber klar, dass es einfach gar nichts nützt, die Ikone zu imitieren – dass Gymmnick ganz Gymmick ist, live und im Studio, ist die klügste Verbeugung vor dem Erbe.

Und das gilt für das ganze kleine Paket. Wer erben lernen möchte, ist hier unbedingt richtig – denn ganz ohne Verklärung lässt „Radio für Millionen“ nach den Widerständigkeiten heute fahnden, die sich gegen den treudeutschen Mainstream der Gegenwart wenden. Rios Freunde von damals und heute werden schnell fündig bei Aufruhr und Meuterei, ganz und gar von hier und heute.


Weitere Informationen:
http://kivondo.de/scherben-akustisch.html

MAI 2017  Wolfgang Rumpf

Willy Astor: Chance Songs

Was hat dieser Künstler aus München (geboren 1961) nicht schon alles gemacht! Er schwärmte wie so viele in den 1970ern für die Beatles und Reinhard Mey, lernte Akkordeon, später Folkpicking for Fingerstyle-Guitar bei Sigi Schwab, wurde hintersinniger Nonsens-Kabarettist (»Rotkäppchen und der böse Golf«), hatte nach einer Radio-Comedyserie in den 1990ern seine eigene TV-Show im bayrischen Fernsehen und ist jetzt wieder zur Liedermacherei und zur Gitarre zurückgekehrt.

Prompt heißt das neue Album, das diesen Sinneswandel dokumentiert »Chance Songs«. Astor präsentiert 15 neue Lieder mit deutschen Texten und verpackte sie in feinsinnige, warme Retro-Arrangements mit E-Piano, Klavier, Schlagzeug und Bass. Im Shuffle »Horizont« und »Hausboot« ist die Stimmung aufgehellt, in »Ich hab dich so vermisst« werden heitere Klezmerklänge eingestreut, andere Lieder geben sich nachdenklicher und werden auch mal Streichern verziert (»Liebe ist keine Erfindung«).

Insgesamt liefert Willy Astor ein entspanntes Plädoyer für Lebensfreude und Genuss, gespeist von einem romantischen Blick auf den Alltag. „Da wo ich bin, scheint die Sonne, endlich hab ichs wieder drauf. Und so manch zerplatzte Träume blas ich einfach wieder auf.“ Oder er bricht einen Song über ein Wiedersehn und Abschied mit der Pointe: „Er nahm sie in den Arm und hat sie zart geküsst, so zärtlich wie das war, hat sie ihn schon vermisst. Dann stieg sie zu ihm ein und fuhrn ganz langsam weg in seinem VW Jetta Stufenheck.“ (»Ich hab dich so vermisst«). Willy Astors Album »Chance Songs« – willkommen zurück im Club der ernst zu nehmenden Liedermacher.


Weitere Informationen:
www.willyastor.de

APR 2017  Peter Eichler

Kokott & Georgi: ... ich werde weiterzieh'n

Die meisten kennen die Situation aus ihrer Schulzeit: die Deutschstunde naht, Leistungskontrolle - Gedichtinterpretation vor der ganzen Klasse. Problem: Gedicht nicht gelernt, weiteres Problem: die Pause vor der Deutschstunde zu kurz, um sich alle Strophen einzupauken. Vor allem dann, wenn eine Ballade angesagt war. Die Ballade als Trauma – vielleicht.

Balladen begegnen uns heute im Alltag meist von Singer/Songwritern und haben mit den Originalen aus dem 18. Und 19. Jahrhunderts nichts mehr gemein.

Umso mehr lassen Jörg Kokott (Gesang, Gitarren) und Christian Georgi (Saxofone, Flöten) auf ihrer CD »…ich werde weiterzieh‘n« die beiden Balladen-Jahrhunderte vor unserem Ohr neu erstehen.

Neu komponiert, neu instrumentiert und neu interpretiert bewegen sie sich weit ab eines Gestus, der an den Balladengroßmeister Carl Loewe erinnern könnte. Wie er haben sich Kokott & Georgi aber auch auf die Klassiker gestürzt - auf Handschuh, Erlkönig, Zauberlehrling oder Barbarossa. Dabei ist es ihnen wichtig, die Handlung, die Geschichte in den Vordergrund zu stellen, denn deren selten vergnügliche, häufig traurige, kriegerische oder geheimnisvolle Geschehnisse erzählen auf kunstvolle Art von unseren Altvorderen und ihrem Leben oder den Geschichten, die sie sich damals zu berichten hatten.

Dabei scheinen die Stimme und der Gesang von Jörk Kokott für dieses Genre geradezu gemacht. Erzählender Weise fängt er uns mit seiner charakteristischen Interpretation ein und nimmt uns mit in eine Gedankenwelt, in eine Poesie, die fesselt und die bei romantische Geistern wunderbare Bilder entstehen lässt.

Während Jörg Kokott mit Gitarre und Mandoloncello für die musikalischen Bilder die Rahmen liefert malt Christian Georgi diese aus. Mit Saxofonen und  Flöte liefert er zusätzliche Farben in Pastell, die den Balladen noch mehr Kraft verleihen und die musikalische Begleitung trotzdem transparent lassen.

»…ich werde weiterzieh’n« ist eine CD, die auch der Sprache huldigt, die ohne die Floskeln von heute auskommt und - an dieser Stelle sei André Heller zitiert - „die jeden Satz wie ein Flagge hochzieht“. Ich finde ein Kleinod in der Kleinkunst unseres Landes, auch wenn es mal so richtig historisch zugeht.

Weitere Informationen:
www.ko-art.de

MÄRZ 2017  Hans Jacobshagen

Martin Zingsheim: Heute ist morgen schon retro

Den Förderpreis zum Deutschen Kleinkunstpreis hat er schon: Der Kabarettist Martin Zingsheim. Er ist jung und schon jetzt ein Meister des Wortes. Mit originellen nicht erwartbaren Pointen begeistert er sein Publikum. Ein wesentlicher Bestandteil seiner Programme waren aber auch stets seine Lieder, aus denen die Liebe zur Musik herauszuhören war.

Für das Düsseldorfer Kom(m)ödchen entstand ein Abend mit Kabarettchansons der legendären Lore Lorentz, alte Texte mit neu komponierter Musik. In der Zeit entwickelte sich die Idee, die eigenen Lieder opulenter zu gestalten. Zingsheim suchte drei Freunde zusammen, die ihn bereits bei musikalischen Frühversuchen während der Studienzeit begleitet hatten. Nebenbei bemerkt: Er promovierte über Stockhausens intuitive Musik. Zingsheim  schrieb Arrangements zu seinen Liedern. So entstand die Produktion: „Heute ist morgen schon retro“.  Mit Martin Weber an der Geige, Nils Wittmann an der Klarinette und Claus Schulte am Schlagzeug ist Martin Zingsheim, der sich selbst am Klavier begleitet, ein großer Wurf gelungen.

Es ist eine CD mit Wort und Musik. Und damit schlägt man zwei Fliegen mit einer Klappe: Ein tolles Kabarettprogramm und ein wunderschönes Liedprogramm in einem. Aber man sollte sich auch die Lieder einmal einzeln und isoliert anhören. Sie stehen jedes für sich, sind hintergründig, manchmal philosophisch, aber fast immer mit einer gehörigen Portion Witz gewürzt. Es beginnt mit einer Abhandlung über die Freiheit der Gedanken, die Freiheit der Rede. Und danach geht es leichter weiter mit Esoerika – da ist der Titel ja schon Inhalt. Es folgt eine kurze Betrachtung über die Postmoderne, es gibt eine Hommage an Herman van Veen und einen Rundschlag über die Zumutungen der Musik der 90er Jahre, Kritik an digitaler Kommunikation aber auch an der verlogenen Romantik der Liebhaber von Mittelaltermärkten. Tandaradei.

Zingsheims Lieder sind im klassischen Sinne Chansons, sie nehmen den Zeitgeist aufs Korn und sind dabei selten konkret politisch. Es macht Freude, sie immer wieder zu hören. Und das wird auch morgen so sein, wenn sie dann ein bisschen retro sind.

Weitere Informationen:
www.zingsheim.com

FEB 2017  Silke Aydin

Udo Jürgens: Merci, Udo!

Endlich ist es soweit. Nachdem seit dem plötzlichen Tod von Udo Jürgens am 21.12.2014 bisher nur zwei Alben veröffentlicht wurden („Das letzte Konzert Zürich 2014 live“ und „Best of live Vol. 2“), erschienen nun gleich mehrere Kollektionen. Eine Standard Doppel-CD, eine 3 CD Premium Edition, eine 3 LP Vinyl-Ausgabe und eine 3er DVD-Box. Sie bilden den Auftakt einer Reihe von Veröffentlichungen, die das musikalische Gesamtlebenswerk des deutschsprachigen Chansonniers und Komponisten in den kommenden Jahren dokumentieren werden. 

„Merci, Udo!“ – so der Albentitel. Auf dem Coverfoto Udos Hand, die nach den ausgestreckten Händen der Fans greift. „Meine Lieder sind wie Hände, die ich allen reichen möcht‘…“ Udo Jürgens hat mit seinen Liedern Brücken gebaut und Menschen erreicht. Die liebevoll von seinem Label und Management zusammengestellten Kollektionen werden seine Musik und Botschaften in weitere Generationen tragen: „Ich lass euch alles da…“ 

Langjährige Fans haben sicher viele der Lieder bereits auf anderen Alben im heimischen Regal stehen. Ausgewählte Lieder aus allen Schaffens-Jahrzehnten auf einem Album vereint, ist aber nochmal etwas ganz Besonderes. Und es befinden sich auch Stücke darunter, die bisher nie auf CD erschienen sind, wie z.B. „Der Mann mit der Mütze“. Dieses Lied widmete Udo Jürgens Helmut Schön (Bundestrainer der deutschen Fußballnationalmannschaft von 1964 bis 1978) und sang es zu seiner Verabschiedung. 

Die DVD-Box vereint legendäre Auftritte in Fernsehsendungen aus sechs Jahrzehnten und enthält neben kompletten Konzerten (1977 und 1980) auch Portraits und Interviews. Raritäten, die bisher wohl nur wenige in ihren Udo-Sammlungen haben. Gerade deshalb ist diese DVD-Box etwas Großartiges und sehr empfehlenswert!

Weitere Informationen:
www.udojuergens.de

JAN 2017  Wolfgang Rumpf

Tini Trampler und das dreckige Orchestra: Delphine

„Nicht nur die Titel ihrer Alben sind originell (Eiscreme - Raspoutine, Declaration amor a Mexico …), sondern auch ihr Stil zwischen Roots-Filmmusik mit Anklängen an die 1920er Jahre, verballhornter Folklore und Ausflügen in swingenden Jazz. Sängerin Tini Trampler liefert dazu eine ebenso schräge wie intensive Performance und verleiht den Chansons/Songs einen zauberhaft ironischen Beigeschmack. Mit Akkordeon, Keyboards, Kontrabass, E-Gitarre, Theremin und Steelguitar entsteht ein Sound, der ziemlich einzigartig klingt und den die kleine Big Band hochmusikalisch und versiert rüberbringt. Delphine bietet keine angehobene Kunstmusik, sondern durchaus erdige Tanznummern mit Charme und Groove. Eine Bereicherung der aktuellen Liedermacherszene. 

Weitere Informationen:
www.dreckigecombo.at

Die Top 20 der
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Liedermacher

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