Persönliche Empfehlung Album

Reihum gibt eine/r der JurorInnen in dieser Rubrik ihre/seine persönliche Empfehlung für ein Album ab und begründet diese schriftlich.

DEZ 2005  Renate Burtscher, Wien

Klaus Trabitsch und Freunde - Butzemann, die schönsten Kinderlieder

Mist. Warum ist mein Sohn schon zu alt für diese CD? Fünf bis sieben Jahre zu spät kommt sie, Kinderliederinterpretationen, wie ich sie mir immer gewünscht habe. Was heißt „Interpretationen“, viel zu hoch gegriffen. Und auch keine ausgefeilten, ausgetüftelten Arrangements werden da geboten und - Gott sei Dank - schon gar nicht „kindgemäße“ (sprich entsetzlich einfallslose, bieder-brave, musikalisch jeder Inspiration darbenden) Aufbereitungen von „Backe,backe Kuchen“ bis „Kommt ein Vogerl geflogen“. Es ist übrigens alles drauf, was man so drauf hat aus diesem Repertoire: die drei Chinesen, der Kuckuck und der Esel, Ein Männlein steht im Walde etc. 15 Traditionals und es ist genau umgekehrt als bei einer herkömmlichen Kinderlieder-CD: Dort (pfui!) wird jedem Liederl dasselbe Kleidchen angepaßt, hier hat jedes eine persönliche Note, erzählt vom musikalischen Umfeld und der Herkunft der MusikerInnen.

Was wären das für lustige Autofahrten gewesen mit Klaus Trabitsch und Freunden - mit Ukulele, Steeldrum, Koto, Akkordeon, Tuba, Kontrabass, Geige, Saxofon, Glasharfe, Perkussion etc! Was für ein Witz, oder auf gut wienerisch: Schmäh. Wir hätten garantiert mitgesungen, mitgewippt, gesummt, kurz wieder einem improvisierten Zwischenspiel auf dem Kazoo oder so gelauscht. Was heißt hätten? Wenn mein Sohn aus der Pubertät raus ist, (auch dieser Tag wird kommen) wird er bestimmt wieder Spaß am Butzemann haben, dem würdiger Nachfolger der Kult-Weihnachts-CD Still, deren bloße Existenz mir Weihnachten seit einigen Jahren erträglicher macht. 

NOV 2005  Stephan Rögner, Frankfurt/Main

Diverse - Ich träume so leise von dir

(Die Sängerinnen sind: Katja Riemann, Gitte Haenning, Mieze (Sängerin der Berliner Band MIA), Katja Maria Werker, die Hamburger Liedermacherin Regy Clasen, Sonja Kraushofer (Sängerin der Band L‘AME IMMORTELLE), die talentierte Nachwuchskünstlerin KAT, Suzie Kerstgens von der Band KLEE, Jovanka v. Willsdorf von QUARKS, Elke Brauweiler von PAULA, die TV-Moderatorin Miriam Pielhau, Bobo (in White Wooden Houses) sowie Milù, ehemalige Sängerin der Band Mila Mar und Gastsängerin bei Schillers „Leben“.)

Lieder eigenwillig und originell interpretiert

Man muss kein Else-Lasker-Schüler-Fan sein, ja, man braucht die aus Wuppertal stammende deutsch-jüdische Schriftstellerin, die 1933 dem Naziregime entkam, später in Jerusalem völlig verarmt lebte und 1945 75-jährig starb, nicht einmal zu kennen, um beim Hören der CD-Lieder mit dem Gesamt-Titel „Ich träume so leise von dir“ sogleich zu spüren, hier waren Liebhaber am Werk, die die Gedichte nur für sich und ihre Hörer sangen und keine Kompromisse eingehen mussten. Die in ihrem Ansatz grundverschiedenen Sängerinnen bei diesem Projekt verleihen der CD den besonderen Zauber.

Da wiederholt sich nichts. Die 13 Frauen bieten ja kein gemeinsames Konzert. Sie singen eigenwillig - jede für sich, alle allerdings Lieder von derselben Autorin - Kunstlieder, andere Leute nennen das Popsongs. Aber die Bezeichnung ist völlig egal, denn die Darbietung ist wahrlich außergewöhnlich, zumal sich die Sängerinnen mit angenehm einfachen und bescheidenen Melodien gegen eine oft experimentell schwergründige „Begleitmusik“ behaupten mussten. Für mich war nicht die Komposition, sondern die Darbietung der singenden Frauen ausschlaggebend, diese CD auf das Podium der Monats-CD der Liederbestenliste zu stellen. Und mit ihrer CD sollen dort ihre 13 Interpretinnen stehen. 

OKT 2005  Holger Beythien, Berlin

Helmut Debus - Steern un Stroom

Dem Folker! sei Dank: Ohne ihn hätte ich nicht - zumindest nicht jetzt - erfahren, dass der medien- und werbescheue Songpoet Helmut Debus im 30. Jahr seiner Bühnenpräsenz ein neues, sein 16. Album veröffentlicht hat.

Für jemanden wie mich, der ich vor einigen Jahren mit diesem ungewöhnlichen Musiker beruflich zu tun hatte und seine musikalischen wie menschlichen Qualitäten persönlich kennen und schätzen lernen konnte, war das eine gute Nachricht - immerhin mussten vier Jahre seit seinem letztem Album vergehen. Außerdem - und dies nicht am Rande - sind gute Liedermacheralben bekanntlich rar in diesem Land.

Mit „Steern un Stroom“ ist nun aber eine solche Rarität erschienen. Aufrichtig und konsequent wie immer, aber ausgewogener und unverwechselbarer denn je erzählt der an der Weser lebende und konsequent plattdeutsch singende Helmut Debus in den neuen, wieder sehr ruhigen Liedern von den inneren Kämpfen der Seele, von der Sehnsucht nach Geborgenheit und von der Kraft der Liebe, als Gegenpol zu einer kalten Welt. Allerweltsthemen? Auf den ersten Blick vielleicht. Aber Helmut Debus hatte schon immer ein Händchen dafür, gerade diese Themen mit der für ihn typischen sinnlichen Anbindung an Natur und Mentalität seiner norddeutschen Heimat zu seinen Ureigensten zu machen.

Einzelne Lieder herauszustellen, wäre ungerecht. Man sollte dieses Album durchhören, um das musikalische wie textliche Gesamtkonzept ganz erfassen zu können. Einfach wird es dem Hörer dabei nicht gemacht. Die Melodien erschließen sich nicht sofort, sind keine Ohrwürmer, prägen sich schwer ein, man kann sie zuweilen sogar als spröde bezeichnen. Und doch sind sie originell, weil: überraschend in Struktur und Verlauf. Die Begleitung wird von Debus’ Gitarre dominiert, die er übrigens sehr sorgfältig spielt(!). Daneben hier und da mal ein Cello, E-Gitarre, Dobro, Akkordeon. Seine exzellenten musikalischen Begleiter füllen ihre eher unterrepräsentierte Rolle mit Bravour aus. Nichts wird zugekleistert, von Keyboards, Drums und technischem Schnickschnack werden wir verschont. Nur die sehr sparsam eingesetzte zweite Stimme von Christine Schmidt setzt sich zuweilen auf die melancholischen Melodien und verleiht den Debus-Liedern einen ganz neuen Glanz.

Einzig das Fehlen einer hochdeutschen Übersetzung gälte es zu bemängeln, wenn nicht das gleichzeitige Mitlesen der plattdeutschen Texte und die hervorragende Artikulation Helmut Debus’ dem intensiven Eindringen in seinen „Ozean der Poesie“ (Kreiszeitung Wesermarsch) gut tun würde.

Insofern ist für mich an dem Album nichts auszusetzen. Ich weiß allerdings auch, dass 70 Minuten lang melancholische und zuweilen auch schwermütige Lieder zu hören nicht jedermanns Sache ist. Meine ja.

Tiefensee, Michael: Helmut Debus. 30 Jahre plattdeutsche Songpoesie. In: Folker!/H. 5,2005, S. 66/67 

SEPT 2005  Martin Steiner, Winterthur, Schweiz

Duo Bohatsch & Skrepek - Alles Liebe

Dreizehn Mal singt das Wiener Duo Bohatsch & Skrepek von der Liebe. Wie immer, wenn das bestimmte Gefühl hochkommt, herrscht helle Freude: „I winsl wie a hund, quak wie a frosch und schrei – I mog di“. Dann gehen die Herren zur Sache: „Hoid mi, druck mi, beiss mi, schluck mi, kum vanosch mi, wannst wist wosch mi, reiss ma uns nieda, imma wieda“. Wie immer in diesem Leben kommen nach der Klimax den feurigen Liebhabern erste Zweifel, wie lange das noch weiter geht. „Sie is a Wundafrau“, singt Helmut Bohatsch im Lied „Wundafrau“. Wunder gibt es zwar immer wieder, doch die dauern nur kurze Zeit: „I glaub i bin net mea i, ewig scho kenn i di, frog mi wias weida geht, irgendwos stimmt do net“. Und es kommt, wie es kommen muss: „Es gibt a nix zum wissen, wo ma was des was ma e, es geht an sunst nua gschissn, ma hoit si söwa nua am schmeh“. Da hilft nur noch ein Rezept: „Fernet, Whisky, Zippero und Schnaps mit eingelegte Kräuter, trinken muss er sowieso, liebste tot doch leben geht weiter, hijo,...“.

Ein Album mit derart intimen Liebes- und Leidesliedern funktioniert nur, wenn die Texte musikalisch und gesanglich kongenial umgesetzt werden. Der hauptberuflich als Schauspieler tätige Helmut Bohatsch spürt genau, wie lange er Silben zerdehnen kann, wie viel Pathos, wie viel Ächzen und Stöhnen, wie viel Säuseln und Schmalz ein Lied verträgt. Der Gitarrist und Perkussionist Paul Skrepek erteilt Branchenkollegen eine Lektion, wie man mit unanständig viel Zeit zwischen den Tönen Wirkung erzielt, er setzt keinen Ton zuviel, aber auch keinen zu wenig. Und wenn im Lied „Ned gnua“ im Bett die Post abgeht, heizen die Herren ihren Akt vom sanften Vorspiel über die beschwingte Bossa Nova zur lodernd flamencoiden Glut auf, nur um wieder sanft wiegend Rückschau zu halten.

Als Anspieltipp für die Liederbestenliste eignen sich der wunderschön schleppende Blues „Kumm mit zu mia ham“ oder das bedächtig swingende „Stew in my own salsa“, dessen Elektrogitarre tönt, als wäre Carlos Santana auf LSD.

Hätte es nie einen François Villon oder Tom Waits gegeben, hätten Bohatsch und Skrepek wohl kaum ein solches Album eingespielt. Doch so echt und stimmig sind Deutsch, pardon wienerisch, gesungene Liebeslieder schon lange nicht mehr daher gekommen. Wer jedoch des wienerischen Dialekts nicht mächtig ist, kann höchstens erahnen, was dort in Sachen Liebe nach ein paar Gloserl Woi so alles abgeht. Da wäre ein Beiheft mit Texten in Druckbuchstaben äußerst hilfreich. Die handschriftlichen Textentwürfe mit unterschiedlichsten Schriftbildern sind zwar ein netter, von Booklet-Grafikern gern eingesetzter Gag. Das Entziffern fremder Schriftzeichen überlasse ich jedoch lieber den Archäologen, die sich an ägyptischen Sarkophagen zu schaffen machen. Trotzdem: Die Arbeit mit dem Textbüchlein lohnt sich und zeigt, dass die Herren dem Thema Liebe mit wahrem Ernst und genau der richtigen Prise Humor begegnen. 

AUG 2005  Tom Schroeder, Mainz

Fröhliche Traurigkeit: Tristezalegría

Das fängt eher harmlos an: Take 1, die Cowboy-Persiflage des Titelstücks bringt un Wort und Ton wenig Überraschendes. Doch das ändert sich schnell (und bleibt bis zum Ende, einem wunderschönen "Sahara"-Trip mit Saxophon).

Take 2: ein Tango über unsere liebsten Haustiere - die Spinnen ("die schwarzbehaarten Dicken und die Kleinen / ach, es ist schon ein Kreuz mit acht Beinen!"). Take 3: ein Nachbarschafts-Dixie; was bei Sarte "Die Hölle - das sind die anderen" hieß, klingt bei Ape, Mika & Co so: "Du wolltest nur Frieden und jetzt hast Du Krieg / der Deutsche, als Nachbar, will den Sieg."

Fred Ape rechnet diese Songs, auch die Cajun-Nummer "Ihre Augen waren blau" und das vom Tambourine Man beflügelte "Wie geht es?" zu seinen "Schelmen-Geschichten" - mich erinnern sie manchmal an Schobert & Black (Fööss), auch an Frank Baier und Reinhard Mey.

In den meisten der 16 Titel des Albums spürt man Apes (so nennt er das) "viertelphilosophische Rückblickaugen" - die schließen Drauf- und Durchblick keineswegs aus.

Es geht um alles. Um die vier Elemente Arbeit, Liebe, Traum und Tod.
Wovon lebst du dann bloß
Alter Mann - mittellos
erfroren im Müll
das alles ist kein Spiel
heißt es im "Rentenbescheid".
Und im "Sensemann":
Im Zug, im Nebel, auf den Autobahnen
beim Kampf um deine Jugend trifft er dich
Dein erster Marathon ist gleich dein letzter
Und dafür quält und ackert man an sich
Die Nächte werden end- und völlig sinnlos
Du schimpfst auf alles Heilige, auf Gott.

Natürlich gibt es auch Liebeslieder, eins für Freds Frau Moni ("Geburtstagslied"), eins für die WG von damals (So läuft alles immer weiter") und eins für die Liebe an sich in ihrer dialektischen Hinterfotzigkeit: "Liebe ist hart, Liebe ist schön" (aus "Es ist schon bitter"). Und die Musik spielt dazu, inspiriert von guten Geistern wie Dylan, The Byrds, The Band, Mc Guinnes Flint, Dire Straits. Der leichte Reggae übrigens (in "Die Berater") wäre der ideale Soundtrack für Thomas Leifs hochgelobten, entlarvenden TV-Film über eine neue Berufsgruppe von Abgreifern. Da kommt Freude auf. Manchmal recht finstere Freude - oder, typisch Ape & Mika, fröhliche Traurigkeit: Tristezalegría.

JULI 2005  Hans Reul, Eupen/Belgien

Martin Rühmann - Keine Haie

Zunächst dachte ich, schon wieder jemand der glaubt, Jacques Brels "Amsterdam" covern zu müssen. Aber dann singt Martin Rühmann seine eigene Amsterdam-Geschichte. Lässig, fast ein wenig lasziv erzählt er von der Stadt, in die es irgendwann jeden zieht, der seinen Ausweg aus der Enge sucht. Und die gleichen poetischen Bilder prägen, textlich wie musikalisch, die Stimmung der gesamten CD "Keine Haie". Rühmann hat eine Stimme, die sich schon beim ersten Hören festsetzt.

Ab und zu erinnert das Ganze an frühe Element of Crime-Songs, nicht die schlechteste Adresse. Auch Neil Young lässt grüßen in der Mundharmonika-Einleitung zum Song über den Leuchtturmwärter. Überhaupt ist es ein Seemann-Album, aber nicht ausschließlich. Es geht um verwundbare Seelen, ebenso um kleine Fluchten und Selbstfindungen. Ich weiß gar nicht, woher Martin Rühmann stammt, ob von der Ostsee oder doch aus Magdeburg, von woher die CD mich erreichte. Egal, wichtig ist, dass die CD in sich stimmig ist und man beim Durchhören immer wieder kleine Aha-Erlebnisse hat. Eine CD-Empfehlung der Liederbestenliste soll Lust auf Entdeckungen machen. Dies ist eine solche.

JUNI 2005  Michael Kleff, Bonn

Roland Heinrich - Einsam und Ausgebremst

Jimmie Rodgers. Das ist natürlich kein Name, bei dem man an deutschsprachige Lieder demkt. Der singende Bremser Rodgers war 20 Jahre vor Hank Williams der Wegbereiter der Countrymusik in den USA. Zugleich war er ein Meister des schwermütigen Jodelns und ein erster Brückenbauer zwischen weißer und schwarzer Musikkultur. Seine zum großen Teil autobiographischen Songs erzählen viel von den kulturellen und gesellschaftlichen Hintergründen der USA in den Jahren während und nach der Weltwirtschaftskrise. Sogar Bob Dylan schwärmte von Rodgers als Inspiration. Seine Songs in deutscher Sprache zu verarbeiten ist allein vor diesem Hintergrund schon ein gewagtes Unterfangen. Bear Family-Chef Richard Weize persönlich lud im Sommer 2002 Roland Heinrich ein, es zu versuchen. Und Heinrich, dem Ruhrpottler mit heutiger Wahlheimat Berlin, ist es mit Bravour gelungen, den richtigen Ton für die Songs von Rodgers in unserer Muttersprache zu treffen.

Vielleicht sind es die Erfahrungen aus dem Ruhrgebiet, dessen soziale Verhältnisse denen im armen Süden der USA so ähnlich sind, die es Roland Heinrich ermöglichen, den Zeitgeist der Musik und Texte von Jimmie Rodgers so vortrefflich in die Gegenwart zu übertragen. Seine Band, die Rumtreiber, mit Mitgliedern der deutschen und niederländischen Folk- und Countryszene, sorgen für einen fulminanten musikalischen Teppich für Heinrichs Gesang - u.a. mit Mandoline, Fiedel, Akkordeon, Tuba, Banjo und sogar einer singenden Säge!

MAI 2005  Michael Laages, Berlin

Gerhard Gundermann - Torero

Noch einmal also der Held, die Ikone, die Stimme des Ostens, noch einmal (und, so sagen die Nachlassverwalter, zum wahrscheinlich vorletzten Mal) dieser eine, um den sich "die anderen" scharten: die, die nicht mit den Wölfen heulen wollten, die - wie er - nicht passen wollten zum engstirnigen Mainstream der DDR: Gerhard Gundermann, in der Lausitz heran gewachsen und ebenda im Hauptjob als Baggerführer beim Braunkohletagebau wie als Autor und Sänger äußerst eigenwilliger, unanpassbarer Lieder groß geworden, blieb unbestreitbar der einzige bedeutende Song-Poet der anderen Republik, ein roher, ungeschliffener Edelstein, in Karat nicht messbar.

Und auch nicht zu beschädigen durch Stasi-Geschichten. "Gundi" durften ihn die Freundinnen und Freunde in kindlicher Zuneigung nennen; und als das große Kind mit den wilden Schnurren von aufrechten Rittern im Kampf ums verlorene Glück im Kopf ist er nun auch in der dritten Ausgabe der "Werkstücke" wieder (oder für manche immer noch neu) zu entdecken; im Jahr, da er 50 geworden wäre - Gundermann starb vor sieben Jahren.

Zwei CDs stark, präsentiert er sich hier noch einmal als "Torero", im Ein-Mann-Klampfen-Kampf einer gegen alle und alle gegen einen wie ihn, erzählt (auf der ersten CD) von Carl Schurz und den deutschen Revolutionären von 1849, die danach, als Auswanderer, das neue Amerika mit begründen halfen, und auf der zweiten von seinem Revier - von "Hoywoy" Hoyerswerda und von aufgelassenen Schächten und vom Tagebau, von Drachentötern und Engeln, von Vätern und Kindern, von Unschuld und Glück. So einen wie den gab (und gibt) es im alten Westen halt nicht - einen Sänger, der mit völlig unangestrengtem Zauberpathos vom eigenen Ich und der Heimat drum herum erzählen kann wie vom Urschlamm der verkommenen Weltgeschichte an sich; einen Poeten, dessen sangbare Dichtung alle Kraft aus der Einfachheit der Dinge bezieht und so doch auch den komplexen Zuständen der Welt auf die Spur kommt, wie sie da gerade zu Grunde geht. Allein mit sich und der Gitarre bleibt dieser traurig-strahlende Held in neuem wie im alten, doppelten Deutschland beispiellos.

APR 2005  Eva Maria Kiltz, Berlin

Der Singende Tresen - Sperrstundenmusik

Ich glaube zuerst war es die Klarinette, die es mir angetan hat. Dann diese ruhige Gelassenheit des ersten Stücks "Lied von der Barfrau" und dann das Berlinern von Manja Präkels. Der darauf folgenden Mischung aus rauer Wehmut und unbeschwertem Drauflosmusizieren hört man an, dass sie nicht im Studio entstanden ist, sondern bei unzähligen Gelegenheiten in den entsprechenden Etablissements gewachsen. Trefflich eingefangen hat der Singende Tresen eine Berliner Stimmung, der man fernab der Szenelokale im Prenzlauerberg und der neuen Mitte nachspüren kann. Wo die unscheinbare Bar an der Ecke Künstler, Arbeitslose, Alt-Sozialisten und ab und an einen verloren gegangenen Partygänger friedlich zusammenführt und zu später Stunde Lebensgeschichten ausgetauscht werden bis die Barfrau die Stühle hochstellt. Sperrstundenmusik spiegelt für mich ein (Ost-?)Berliner Lebensgefühl wider, das in den Hochglanzreiseführern - glücklicherweise - nicht erwähnt wird und am Hackeschen Markt nicht gefunden werden kann.

Die Texte zum Debütalbum und viele andere sind unter dem Titel "Tresenlieder" im Verlag Edition AV erschienen. 

MÄRZ 2005  Mike Kamp, Bad Honnef

Günter Gall - Galläppel

Es ist schon seltsam! Da rede ich immer davon, dass neue, junge, zeitgenössische Künstler in die Liederbestenliste gehören ... und dann empfehle die CD eines Herren, der genau das Gegenteil davon ist: Mittelalt (wie ich), spielt Folk und singt Dialekt. Wie abgrundtief unmodern! Ich könnte es aber auch anders ausdrücken: Günter Galls Musik wurzelt in der Folklore und seine Erzählungen und Lieder schöpfen ihre Kraft aus der Sprache des Niederrheins und seiner Menschen. Das mag nicht modern sein, aber es ist gut, sehr gut sogar und bestätigt überdies meine persönliche These, dass die Folkmusik und die Liedermacherei zwei Äste eines Stammes sind.

Günter Gall hat sich schon immer für seine Heimatregion eingesetzt, noch nie jedoch ist ihm das Portrait des Niederrheins so umfassend und überzeugend gelungen. Hüsch mag bekannter sein, Gall ist persönlicher und daher näher dran an dem ganz speziellen Menschenschlag. Nicht analytisch liebevoll entlarvend, sondern direkt und kraftvoll erzählt und singt er sozusagen seine eigene Geschichte im letzten Jahrhundert, alles selbst erlebt oder zumindest in der Umgebung beobachtet. Der Gesang ist gereift, die Instrumentierung unaufdringlich, aber eindrucksvoll und der Erzählstil durchweg passend. Eben nicht modern und dennoch ein kleines Meisterwerk. Mit diesem scheinbaren Widerspruch kann ich leben. 

FEB 2005  Rainer Hannes, Baden-Baden

Michy Reincke

Wie Michy Reincke selber sagt, hat er mit seinem Jugend-Idol Bob Dylan etwas gemeinsam: Er kann nicht besonders singen, nicht besonders Gitarre spielen, aber nicht schlecht texten und die Musik ist sehr eingängig. Reincke untertreibt. Seine Texte sind ausgezeichnet. Sie sind unkonventionell, sie überraschen, lassen stolpern, bevor sie einen wieder auffangen. Sie handeln von Liebe, Wut, Eifersucht, Gier, Trauer oder Schönheit. Liebeslieder also im weitesten Sinn. Da heißt es aufpassen, dass die Gefühle mit der Musik nicht im Matsch landen oder im Seichten, Allzuseichten. Reincke passt auf. "wenn etwas so verrückt macht & nichts ist wie es scheint. wie jeder von uns dinge tut, über die man lacht & weint. das ganze bündel widersprüche & wie es sich offenbart - es ist nur liebe auf ihre art", erzählt er mit kehliger Stimme und nichts klingt daran erlogen oder hingebogen oder für den schnellen Markt gemacht. Die Musik ist tatsächlich eingängig. Aber das kann, nein: muss anspruchsvoller Liedermacher-Pop auch sein.

Michy Reincke, Jahrgang 1959, reiste nach dem Abitur als Straßenmusiker durch Europa. 1984 gründete er die Band Felix de Luxe, die mit dem Titel "Taxi nach Paris" berühmt wurde. Seit 1988 arbeitet er als Solo-Künstler, betreibt in Hamburg den eigenen Musikverlag Rintintin und schreibt. 

JAN 2005  Nikolaus Gatter, Köln

Paul Bartsch

Pünktlich zur Ausstrahlung von "Heimat 3", dem gefühlsseligen Epos großstadtmüder Land-Ratten, serviert uns Paul Bartsch eine Platte im ungewohnten "ostfälischen" Dialekt. Ihr Autor ist der außerhalb seiner Heimat unbekannt gebliebene Bäckersohn Fritz Otto Hartmann (1891-1974). Seine Lebensgeschichte wird zwischen den Tracks erzählt: Soldat im Ersten Weltkrieg, Auswanderung nach Brasilien, Rückkehr nach zwei Jahrzehnten ins Harzvorland - als Gescheiterter. Mundart einmal nicht als Humorspritze oder kabarettistische Rollenprosa; die ernsten, schönen Lieder thematisieren dörflichen Alltag, Heimatverlust und Resignation. Sie wurden behutsam für Gitarre, Geige, Akkordeon und Percussion arrangiert. Texte und Noten, die Biographie des Dichters und seine Landschaft sind im CD-Beiheft liebevoll dokumentiert. 

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