Persönliche Empfehlung Album

Reihum gibt eine/r der JurorInnen in dieser Rubrik ihre/seine persönliche Empfehlung für ein Album ab und begründet diese schriftlich.

DEZ 2015  Dieter Kindl, Kassel

Frank Baier - Gesänge des Ruhrgebiets 1870 - 1980

„Dat muß doch auch wat Späßken bringen“ - war so mit das Erste, was ich von Baier Westrupp gehört habe. Aufmerksam geworden bin auf das Album übrigens durch eine Karikatur von Walter Kurowski. Darauf sieht man einen Musiker, der in den Händen eine Harmonika hält. Beim Auseinanderziehen des Instruments trifft er mit der linken Faust das Kinn eines Mannes. Der trägt Anzug und Melone und im Mundwinkel hat er eine Zigarre. Auf dem Boden steht zudem ein Aktenkoffer. Der Inbegriff eines Kapitalisten also. Dass der von der Faust Getroffene von dieser Aktion begeistert ist, kann man nicht behaupten. Wohl aber der Musiker, der zudem lauthals „muss"n bissken Spässken machen!“.

Nun hat Frank Baier, der dieses Lied geschrieben hat, ein neues, und wie er selbst sagt, sein letztes Album veröffentlicht. »Gesänge des Ruhrgebiets« heißt es und beinhaltet zwanzig Lieder aus der Zeit von 1870 bis 1980. Freunde rieten ihm von dieser Produktion ab: „... also Frank, das will kein Schwein hören. Spar dir das Geld und die Mühe ...“. Das hat Frank Baier dankenswerterweise nicht gemacht.

Und so ist ein Album entstanden, dass den Zuhörern einen Einblick ins Ruhrgebiet und seine Menschen gibt. Mehr noch: man erfährt durch die Lieder viel über die Geschichte dieser Region. Über das Leben im Kohlenpott, dem Kampf gegen Zechen-Stillegungen, der Solidarisierung der Kumpel gegen ihre Bosse. Ein Leben, dass es so heute nicht mehr gibt.

Und die Lieder, die darüber erzählen, wären ohne das Engagement von Frank Baier wahrscheinlich eh" schon längst vergessen. Über mehrere Jahrzehnte hat er Lieder der Region gesammelt und die dazugehörigen Geschichten aufgeschrieben. 2012 hat er zusammen mit Jochen Wiegandt das Liederbuch Ruhr »Glück auf!« veröffentlicht. 464 Seiten umfasst das Werk. Dieses „Liederbuch kann leider noch nicht singen. Diese Lieder sterben uns weg, ich möchte sie erhalten wissen“ meint Baier im Vorwort seines Albums.

Grundlage dafür ist ein Konzert, das Frank Baier am 14. März 2014 im »Archiv für populäre Musik im Ruhrgebiet e. V.« im Evinger Schloss Dortmund gab. Dreieinhalb Stunden stand er mit Gitarre, Ukulele, Quetsche und Mundharmonika auf der Bühne, ein Bruchteil davon wurde nun auf einen Tonträger gebannt. Auf einen ebenfalls fast vergessenen übrigens, denn die »Gesänge des Ruhrgebiets« gibt es ausschließlich auf LP. Ganz wie früher ist auch die Ausstattung des Albums: die braune Kartonhülle wurde selbst zusammengetackert und das Cover ziert lediglich ein Förderturm in schwarzem Druck. Im 12-seitigen Begleitheft im Großformat finden Interessierte aber nicht nur alle Texte sondern auch viele Hintergrundinformationen zu den einzelnen Liedern.

Ich jedenfalls bin froh, dass Frank Baier nicht auf seine Freunde gehört hat, denn dieses Album macht mir jede Menge Späßken. Und Lust, mir seine alten Scheiben auch mal wieder anzuhören.

NOV 2015  Michael Kleff, Bonn

Dieter Süverkrüp - Ça ira

Revolution? Das ist doch etwas für Gestrige! Okay, Konstantin Wecker singt doch über ihre Notwendigkeit in dieser Zeit. Ansonsten sind in der Liedermacherszene jedoch eher vertonte Bauchgefühle auszumachen. Es gibt sogar Künstler, die sich damit anpreisen, gerade keine politischen Lieder zu schreiben. Da kommt mir diese Veröffentlichung gerade recht. Das französische Chanson „war immer schon politischer und bewusster als unser Volkslied oder was wir bisher dafür hielten. Wir können viel von ihm lernen.“ Das schrieb der Kulturredakteur und politische Dichter Gerd Semmer vor über sechzig Jahren, als er in der Geschichte der Französischen Revolution zu graben begann. Dabei stöberte er in der Pariser Nationalbibliothek Lieder aus den Jahren von 1789 bis 1795 auf, von denen viele selbst bis heute in Frankreich immer noch mehr oder weniger unbekannt sind. Semmers Übertragungen ins Deutsche schlagen eine Brücke in die Gegenwart. Zudem verbinden sie eine durchaus witzige Sprache mit der klaren Aufforderung, bestehende gesellschaftliche Missstände zu bekämpfen. Mit Dieter Süverkrüp wurde dann schnell der geeignete Interpret gefunden. Süverkrüp, Grafiker und Liedermacher, war auch Mitbegründer des Pläne-Verlags, bei dem

1962 die ersten vier Ça-ira-Lieder auf Vinyl erschienen. Sieben Jahre später waren es zwanzig Texte, deren Aufnahmen die Grundlage für diese Erstveröffentlichung des revolutionären Erbes auf CD sind. Anfang der Sechzigerjahre gab es im biederen Westdeutschland kaum Hoffnung auf politische Veränderungen. Dennoch sagten sich die Pläne-Leute damals wohl, wir haben keine Chance, aber nutzen wir sie. „Man sagt uns, Knechtschaft sei nicht bitter“, singt Dieter Süverkrüp im Abgesang auf die verlorene Revolution, „da könnten wir glücklich sein.“ Und wer zwischen den Zeilen hören kann, weiß wie aktuell diese Aussage ist angesichts der aktuellen politischen Lage. Damals sang der noch junge, aber schon scharfzüngige Liedermacher über den seinem Volk gegenüber gütigen König und Vater. Es bedarf keiner großen Anstrengung, um beim Hören an die Übermutti zu denken, die unsere Nation in diesen Tagen einlullt. Die alten Aufnahmen der Ça-ira-CD vermitteln Leidenschaft. Die wird heute auch gebraucht. Noch einmal Gerd Semmer: Die Liedsammlung soll „ wie Walter Benjamin sagt, ‚als Zuversicht, als Mut, als Humor, als List, als Unentwegtheit‘ im Kampf um die Emanzipation der Menschen und der Menschheit lebendig“ bleiben.

Einziger Kritikpunkt an der CD: Das Booklet enthält zwar alle – von Dieter Süverkrüp eigens illustrierten – Texte sowie die von Semmer vor über sechzig Jahren aufgeschriebenen Gedanken zu der Sammlung der Lieder der Französischen Revolution. Doch leider fehlen sowohl die Namen der mitwirkenden Musiker als auch eine Einordnung der Produktion in die (Musik-)Geschichte.

 

OKT 2015  Hans Jacobshagen, Köln

Köster & Hocker - Rest of I/II

Gerd Köster und Frank Hocker sind ein Kölner Musikerduo. Seit den 70er Jahren spielen sie in verschiedenen Formationen miteinander, zum Beispiel in der Anarcho-Combo Schroeder Roadshow. Später gründeten sie das legendäre Projekt „The Piano has been drinking“. Warum nicht mal Tom Waits auf Kölsch? Die Idee dazu kam der Legende nach bei einigen Gläsern des gleichnamigen Getränks, doch schon bald wurde die Band Kult. Kösters Übersetzungen erwiesen sich als genial und dem Original durchaus ebenbürtig. Gewürzt mit ein bisschen Rheinischer Seele fanden sie schon bald bundesweit Beachtung. Auch der Meister selbst soll von den Tönen angetan gewesen sein. Gerd und Frank waren von da an ein unzertrennliches Musikerduo, das 2005 mit vielen Konzerten und einer CD-Veröffentlichung Silberhochzeit feierte. Beide hatten diverse Solo-Projekte, fanden aber immer wieder zum gemeinsamen Wirken zusammen, auch nach Auflösung von „The Piano has been drinking“ im Jahr 1993. Köster textete und sang, Hocker komponierte, spielte Gitarre und sang auch als Begleitung. Sie taten das in Bandbesetzung aber auch als Duo Köster/Hocker. Die Themen sind Geschichten aus dem Leben: Von der alleinerziehenden Mutter, die, was immer sie auch versucht, „ze vill Jepäck“ (zu viel Gepäck) hat. Vom Jupp, der keine Frauen weinen sehen kann und einfach nur der Größte ist. Von den Vorstadt-Mädchen im „Rude Jolf“ (Roten Golf), der mit ihnen davonrollt, weil sie für die Kerle unerreichbar sind. Und sie singen „Für et Hätz und jäjen d´r Kopp“ (Für das Herz und gegen den Kopf) beim Arsch-Huh-Konzert und versichern: „Do kanns nix dofür, wenn do dräums“ (Du kannst nichts dafür, wenn du träumst). Und sie haben neue Kölsche Krätzjer geschrieben. Und damit eine alte Tradition fortgeschrieben, heitere Begebenheiten hintergründig ironisch, manchmal bissig zu erzählen. Für den Nichtrheinländer: Sie sind vergleichbar mit den bayrischen Gstanzln, aber doch anders.

Die beiden Alben „Rest of I“ und „Rest of II“ sind einzeln erhältlich und enthalten eine bunte Mischung von Aufnahmen aus 25 Jahren. Gerd Köster schreibt in den Liner Notes: „Keiner der Live-Mitschnitte ist nachbearbeitet oder ausgebessert. Alles, was zu hören ist, wurde auch genauso gespielt, gesungen, beschmettert und behauptet.“ Bei Köster, Hocker und ihren Mitmusikern sieht man ausnahmslos Menschen auf der Bühne, die ihre Musik lieben und dieser Liebe eben diese unglaubliche Präzision schulden.

Wer also kein Kölsch versteht, kann sich auch an den Tönen erfreuen. Aber es lohnt sich, sich mit den Texten auseinanderzusetzen. Im Internet kann man sie mitlesen, das hilft bestimmt. Und es kommt die Erkenntnis, dass das alles Lieder sind, die über die Jahre Gültigkeit bewahrt haben, die – ja das tun sie auch – von der Kölschen Seele erzählen. Die aber ehrlich sind. „Respek es en Hur“ (Respekt ist eine Hure) singen Köster/Hocker in einem ihrer aktuellen Lieder „Leis rieselt et Hätz en´t Portmonnaie“ (Leise rieselt das Herz ins Portemonnaie).

Die Lieder von Köster und Hocker sind auch ein Beweis für die emotionale Aussagestärke von Dialekten. In der hochdeutschen Logik wären diese Lieder schon voll mit packenden Inhalten; wer sich die Mühe macht, sich in das Kölsche hineinzudenken, wird noch eine Dimension mehr erfahren.

Und noch ein Schlusssatz für die Vorurteilsbeladenen: Das Ganze hat nichts mit Karneval zu tun. Denn es gibt auch in Köln noch ein Leben neben dem Fastelovend. Und das ist auch gut so.

SEPT 2015  David Wonschewski, Berlin

Matthias Binner - Vorbeischneiten Freiheiten

Dass Matthias Binner zu jenen Chansonniers gehört, die sich mehr als Bühnen- und Programmkünstler denn als Studiomusiker verstehen, doch, das macht der Berliner vom ersten Augenblick an ziemlich deutlich klar.

Jetzt ist der Augenblick fast da, der Moment ist zum Greifen nah, die Spannung steigt und die Erwartung wird riesengroß.

Ein A cappella-Kaltstart ist dieser (nur gen Ende mit minimalem Pianospiel unterfütterte) Eröffnungstrack namens „Geht gleich los“. Textlich, wir dürfen hier von dramaturgischem Vorsatz ausgehen, ein nahezu belangloses Stück, mit dem Binner Vorfreude und Spannung auf das, was da nun kommen wird, schüren möchte. Die Gesang gewordene „Ruhe vor dem Sturm“ vernehmen wir hier. Und wohl auch den Versuch allem voran die eigenen Nerven zu beruhigen.

Man kann ihn fast ein wenig verstehen, den Mann aus Schöneberg, der seit gut 15 Jahren als Musiker auf illustren Berliner Bühnen wie der „Bar Jeder Vernunft“ oder dem „BKA“ zu Hause ist und Bekanntheiten wie zum Beispiel Maren Kroymann bei ihren Auftritten durchs Land begleitet. Denn: „Vorbeischneiten Freiheiten“ ist wahrhaftig Binners erste CD-Veröffentlichung. Kein Wunder also, dass sich neben berechtigter Vorfreude eine ebenso berechtige Anspannung einstellen will, die – das dürfen wir dahin vermuten – bei ihm sogar noch ein wenig größer sein dürfte als bei anderen Debütanten. Denn ungezählt sind die Geschichten jener „zweite Reihe“-Leute, die ihre Lebenszeit mit „was wäre wenn“-Gedanken verjuchzten ohne je aus dem Knick gekommen zu sein. Und noch ungezählter die Geschichten jener, die sich felsenfest sicher waren es besser (oder doch zumindest genauso gut) hinzubekommen wie ihre jeweiligen Vortänzer. Und die es dann eben nicht schafften, die zerbrachen in jenem Moment, in dem die eigene künstlerische Eitelkeit den Kopf verließ, um als Mittelmäßigkeit auf einer mediokren Solo-CD zu stranden.

Nun, greifen wir beherzt ein in den Lauf der musikhistorischen Einordnung und geben zu Protokoll: Auch wenn der dahinplätschernde Beginn Belangloses vermuten lässt und sich unter den sage und schreibe 25 Liedern des Albums immer wieder arg luftige Stücke finden, die den oben benannten dramaturgisch durchdachten Eindruck nur noch weiter verstärken, legt Matthias Binner mit „Vorbeischneiten Freiheiten“ eines der besten Chanson-Alben der vergangenen Jahre vor.

Sicherlich, für sich genommen liegen Stücke wie „Seniorenkaraoke“, „Clipmicrophone“ oder das schlichtweg wunderbare, weil für hemdsärmelig-heterosexuelle Männer kaum über die Lippen zu bringende „Schubs mich nicht aus deinem Herzen“ gefährlich nah an Revue und an Schlager, unterstreichen bestenfalls Binners kompositorische Vielseitigkeit sowie seine – quod erat demonstrandum – Fähigkeit, wenn es aus seiner Sicht darauf ankommt eben auch in den vereinfachten Erzählstrukturen eines Musicals agieren zu können. Stellvertretend für die textliche Tiefe und Klasse dieses Albums stehen sie jedoch nicht, hantieren dafür mit einem durchaus frivolen Hang zum Kitsch. Ein Kitsch, der, man muss es erwähnen, allerdings nicht nur seine Berechtigung, sondern längst auch seine Tradition hat und der auch bei Chanson-Koryphäen wie Klaus Hoffmann oder Malediva zum Repertoire eines jeden neuen Albums gehört und gehörte. Man darf sich dahingehend durchaus einmal Klaus Hoffmanns Lied „Stiefel aus spanischem Leder“ aus dem Jahr 2010 anhören, vor dem es dem Künstler laut eigener Aussage bis heute selbst graust – oder aber als formidabel gelungenes Gegenbeispiel die „Kreuzfahrtschiffnutten“ von eben Malediva.

Zu diesem „Erbe“, inbrünstig an der Grenze zwischen Eleganz und Kitsch entlangzutänzeln, bekennt sich fraglos auch Binner, was vermutlich von daher ein unfair schwieriges Unterfangen ist, da wir – im Gegensatz zu Hoffmann oder Malediva – von ihm eben noch kein Bild im Kopf haben, nicht automatisch einen Gestus oder eine Mimik zuordnen können, ja überhaupt noch kein Image aufgebaut haben. Dementsprechend doppelt und dreifach strecken muss Matthias Binner sich also, um seinen künstlerischen Ansatz auch Leuten beizubiegen, die weder ihn, noch den lust- und schwungvollen Berliner Chanson-Untergrund kennen.

Und er streckt sich, der gute Mann. Und wie er sich streckt, oha. „Die schönen Lieder aus dem Krieg“ ist das erste Stück, das einen jeden Hörer umgehend zum Binner-Fan werden lässt. Denn die Idee dieses Stücks, ohja, die ist durchaus als kitschig zu benennen, setzt er doch ein mit ein paar wie dahingewürfelt angespielten Klassiker-Melodien auf dem Klavier. „Yesterday“ von den Beatles! „La vie en rose“ von der Piaf! Und dann… Sinatra! Das Spiel, das Binner hier mit seinen Hörern treibt, ist so abgegriffen wie unwiderstehlich: Rat mich, du kennst mich! Oder anders: Rätst du noch oder schwelgst du schon?

Für diesen Ansatz gibt es noch keine Blumen, einen dicken fetten Strauß erhält Binner jedoch für das was folgt: eine fundiert-emotionale Auseinandersetzung mit dem Begriff „Hits“. Und unserer menschlichen Angewohnheit sie intellektuell verschmähen wie ihnen rettungslos verfallen zu können – zeitgleich. Das Besondere an „Die schönen Lieder aus dem Krieg“ ist, dass Binner es nicht als Besserwisser, sondern als selbst rettungslos Verfallener angeht, was den Kreis zur just erwähnten Kitsch-Bereitschaft durchaus ein wenig schließt. Eine feine Ironie offenbart sich hier, ein Bekenntnis sich den noch immer mittappenden Fuß einzugestehen, der immer dann ein Eigenleben zu führen beginnt, wenn das Intro von Sinatras „New York, New York“ einsetzt. Dass er, Binner, hier so ganz nebenbei selbst einen veritablen Ohrwurm aus dem fingerschnippenden Hemdsärmel schüttelt, krönt diesen kleinen nostalgischen Liedrückblick. Wer sich von „Geht gleich los“ noch nicht in das Album hat hineinziehen lassen wollen, der ist spätestens jetzt drin. Egal, ob er will oder nicht.

Und dann? Dann vollzieht der Pianist eine bedächtige, jedoch resolute Vollbremsung, schwenkt vom charmanten Alleinunterhalter hinüber zum ernsthaften Liedermacher. Dass man Binner diesen Drahtseilakt zwischen „belustigt“, „berührt“ und „bedächtig“ abnimmt ist fraglos seiner textlichen Versiertheit zu verdanken, die nicht zuletzt in den SAGO-Seminaren des Christof Stählin nachhaltig geschult wurde und in denen auch schon Bodo Wartke, Sebastian Krämer oder Dota Kehr ihren letzten Feinschliff erhielten. Und so erleben wir eine Vollbremsung, die einen nach den flockigen ersten Stücken baff erstaunen lässt.

Ja, wer geglaubt hat diesen Mann nach wenigen Liedern bereits dechiffriert zu haben, steht mit einem Male mit offenem Munde da. Denn was folgt sind nicht weniger als ein halbes Dutzend Lieder, für die wir jeweils den abgespackten Begriff „kleines Meisterwerk“ aus der Kiste holen dürfen.

Wie würde´s aussehen, wie würde man leben in einem von Nazis erdachten Berlin?
Würden die Gründerzeitvillen noch stehen auch die, die von Bomben zermalmt worden sind?
Was würde man von ihren Fenstern aus sehen? Was würd´ man bemerken, wofür wäre man blind?

In Zeiten, in denen selbst der aufgeklärteste Geist Phoenix nicht mehr einschalten mag, da er schlichtweg keinen Bock auf Führervisage und Vergangenheitsbewältigung mehr hat, kommt das so sanfte „Die Ruinen Germanias“ geradewegs gewaltig daher. Das Lied dreht sich um den Berliner Teufelsberg, der im Winter von Kindern zum Schlittenfahren genutzt wird und unter dem sich der Schutt dessen verbirgt, was im Dritten Reich einmal Germania hätte werden sollen, das prunkvoll-überdimensionierte Zentrum des Nazi-Reiches. Ein besonnenes, feingliedrig erzähltes Stück. Ein Aufruf zu gedanklicher Aufarbeitung, der endlich einmal nicht auf den Keks geht. Und zugleich eine Mahnung, wie wir sie uns nicht schon tausendmal (gähnend, immer gähnend) anhören mussten.

Tatsächlich geschehen“ blickt zurück in Binners Kindheit und frühe Jugend, die er im Schatten der zunächst stehenden, schließlich fallenden Berliner Mauer verbrachte. Der Charme dieses Liedes entspinnt sich, unterstützt durch ein gerade einmal hingetupftes Glockenspiel, durch die für jeden Menschen nachvollziehbare Erzählperspektive, für die man weder Binner noch Berliner sein muss. Denn wir alle, so erzählt uns Binner in seiner Erzählung über ein Foto, das ihn kurz nach dem Mauerfall am Grenzübergang zeigt, sind Teil der Geschichte. So oft erliegen wir dem Eindruck allenfalls am Rande politischer Ereignisse zu stehen, vielen erscheint es gar als wären sie überhaupt nicht dabei; auch Binner muss sich, wie wir hören, fast schon kneifen um sich zu erinnern, dass er beim Mauerfall dabei war, dass er Teil eines der bedeutsamsten Ereignisse des vergangenen Jahrhunderts ist. Und so wird – und das ist mit Verlaub ganz große Kunst – aus einem rührseligen Nostalgiestück zwischen den Zeilen nicht weniger als ein beherzter Griff an den Hemdkragen eines jeden von uns sich nicht einzuigeln, nicht in gesellschaftspolitische Lethargie zu verfallen. Oder mal wieder, wäre für den Anfang doch auch mal was, wählen zu gehen.

Eine Extra-Erwähnung muss noch die Sängerin Juliane Maria Wolff erhalten, die Binner in fünf Stücken begleitet und ihn – der Herr Künstler wird es verschmerzen – schlichtweg vom Pianoschemel singt. Mit einem Vokalorgan, werden doch auch wir ein wenig kitschig und pathetisch, zum Niederknien. Und Knienbleiben. Ist das schon Musical? Doch, ganz sicher, das ist Musical.

Fazit: Das Ansinnen von Matthias Binner, auf dieser CD sage und schreibe 25 Stücke zu vereinen, ist nachvollziehbar und hat seine Berechtigung. 18 hätten es mit Sicherheit aber auch getan und dieses Kleinkunst-Edelsteinchen zudem mit einer Kompaktheit versehen, auf die, seien wir ehrlich, aber auch nur Musikjournalisten scharf sind.

AUG 2015  Matthias Inhoffen, Stuttgart

Wenzel: Sterne glühn - Wenzel singt Johannes R. Becher

Ich bin ein Wessie. Groß geworden in der alten Bundesrepublik, haben mich die Liedermacher der Burg Waldeck fasziniert, der Reinhard Mey und der Hannes Wader, auch der gestrenge Advokat Franz Josef Degenhardt, die Mundart-Rocker von BAP bis Wolfgang Ambros. Der Osten? Was da über die Mauer rüberwehte (Puhdys oder City), machte nicht wirklich neugierig. Durch persönliche Recherchen stieß ich auf Renft, das klang schon besser, witziger, unkonventioneller, über einschlägige Polit-Buchläden habe ich von denen auch eine schwarze Scheibe aufgetrieben.
Dann fiel die Mauer, auch in der Jury der Liederbestenliste fand eine Art Wiedervereinigung statt. Sehr bald fiel der Name Wenzel. Und es war seltsam: Diese Stimme, diese Musik verstand ich auf Anhieb. Ohne dass ich die Anstrengung auf mich nehmen musste, in eine mir ursächlich nicht vertraute Kultur einzutauchen.
Vielleicht liegt es an dem empathischen, berührenden Gesang, mit dem dieser Hans-Eckardt Wenzel den Zugang zu seiner Poesie ganz unkompliziert ermöglicht. Zuletzt hatte der vor fast genau sechzig Jahren in Kropstädt bei Wittenberg geborene Musiker, Autor und Clown (eine kluge Selbsteinschätzung!) den Horizont etwas weiter gesteckt und 2014 auf dem Album „Viva la poesia“ karibisches Terrain durchstreift. Mit „Sterne glühn“ führt ihn der künstlerische Pfad nun direkt zurück, weit zurück, zu den Wurzeln, in die DDR.
13 Texte von Johannes R. Becher hat Wenzel hier vertont, 13 poetische Perlen des 1891 in München geborenen Essayisten, Theoretikers, Politikers, Schriftsteller-Funktionärs und Dichters, der vor den Nationalsozialisten über die Tschechoslowakei und Frankreich nach Moskau floh und in den Fünfzigern für kurze Zeit zum Kulturminister der DDR aufstieg. Wenzel hat die Becher’sche Lyrik teils angepasst. „Textliche Einrichtung und Collagen“ nennt er das. Insgesamt vier Gedichte der ersten Albumhälfte sind als Collagen ausgewiesen, vom titelgebenden, fernwehgetränkten „Sterne glühn“ („Sterne glühn, und Schiffe werden fahren, und das Meer wird stürmisch sein“) bis zum rockig unterfütterten „Barbarenzug“, einer Warnung vor menschenverachtender, rassistischer Ideologie und ihrem überraschenden Weg in die Köpfe: „Sie kamen nicht aus einem Urwald her, und nicht aus Felsgebirg und Wüsteneien. Sie zogen in den Völkern kreuz und quer und kündeten, dass sie die Retter seien ...“
In einigen wenigen pathetischen Versen ist die Becher-Lyrik, finde ich, nur noch als historisches Dokument genießbar, in großen Teilen jedoch ist sie beklemmend aktuell. Diesen Tresor aufzuspüren und dem Vergessen zu entreißen, das war ein von langer Hand vorbereitetes Projekt. 2006 hatte der Künstler mit den Aufnahmen begonnen, jetzt erst, neun Jahre später, liegt das Ergebnis vor. Es ist keines dieser betulichen Lyrik & Jazz-Werke, wie sie in den Wirtschaftswunderjahren der Westrepublik in Mode kamen, sondern ein aufrüttelndes Pamphlet auf der Höhe der Zeit, musikalisch changierend zwischen trügerischer Walzerseligkeit oder pianistischer Intimität und rockender Wut – und doch durchzogen von herzerwärmender Zärtlichkeit und Menschlichkeit. Da herrscht eine Seelenverwandtschaft zwischen zwei Geistesmenschen. Und diese lassen Wenzel und Band den Zuhörer spüren.

JULI 2015  Hans Reul, Eupen (Belgien)

Konstantin Wecker - Ohne Warum

Angelus Silesius, ein Lyriker des 17. Jahrhunderts, stand Pate für den Titel der aktuellen CD von Konstantin Wecker:

„Die Ros ist ohn Warum,

sie blühet, weil sie blühet,

sie achtet nicht ihrer selbst,

fragt nicht, ob man sie siehet.“

Die Rose, sie existiert, nicht zweckgebunden, sie ist in sich sinnvoll. Wecker erinnerte sich Ende 2014 wieder an das Epigramm von Silesius und entdeckte, dass dieser auf einen noch wesentlich älteren Mystiker, nämlich Meister Eckhart (aus dem frühen 14. Jahrhundert) zurückgriff, auf dessen „sunder warumbe“.

Ganz im Sinne der Theologin Dorothee Sölle, die 1997 ein Buch mit dem Titel „Mystik und Widerstand“ und dem Untertitel „Du stilles Geschrei“ veröffentlicht hatte, deckt die neue Wecker-CD diese beiden Themen ab. „Mystik und Widerstand“, das wäre nach „Wut und Zärtlichkeit“ aus dem Jahre 2011 auch ein treffender CD-Titel gewesen.

Innerhalb von nur vier Tagen hat Konstantin Wecker die 14 Texte niedergeschrieben, wie in einem Rausch, oder wie es heute heißt „in einem Flow“, und gleich mussten die Gedichte auch vertont werden. Und das ist wieder bemerkenswert: Jedes Gedicht - denn die Lieder sind in ihrem Ursprung allesamt Gedichte - erhält eine so genaue und jedem Text eigens zugeschnittene musikalische Umsetzung, die zu einem alles andere als gleichförmigen Album, sondern zu einer abwechslungsreichen aber immer genau auf den Punkt durchkomponierten CD führt. Da steht die gefühlvolle Klavierballade „Auf der Suche nach dem Wunderbaren“ neben einer fast Weill‘schen Komposition „Die Mordnacht von Kundus“. Wecker, selber ein Meister am Klavier, arbeitet seit jeher mit großartigen Musikern zusammen und konnte für das Lied „Und dann“ sogar Till Brönner gewinnen, der den sanften Kontrapunkt auf der Trompete setzt.

„Ohne Warum“ ist in vielen Liedern ein sehr poetisches und sehr persönliches Album geworden. Neben einem Lied „An meine Kinder“ und der Reprise „Und dann“ aus dem Jahre 1982 stehen Vertonungen und Weiterdichtungen von Novalis oder auch Georg Heym: „Der Krieg“, dessen Sprachgewalt noch heute erschüttert. Schon der damals 14jährige Konstantin Wecker entdeckte diesen expressionistischen Dichter des frühen 20. Jahrhunderts für sich. Auch Hoffmann von Fallerslebens zeitloses „Die Gedanken sind frei“ erfährt eine kongeniale Interpretation.

Dies führt uns zum politischen Konstantin Wecker. Es wurde wieder mal Zeit sich bei „Willy“ zu melden und in dem Talking Blues „Revolution“ der Wut Ausdruck zu geben. Wut über die Tatsache, dass ein Prozent der Weltbevölkerung über 50 Prozent des Weltvermögens besitzt, dass Pegida und andere dumpfe Schwachköpfe Angst verbreiten vor einer vermeintlichen Islamisierung des Abendlandes. Nicht nur Wut spricht aus diesen Liedern, auch Hoffnung wie in „Ich habe einen Traum“. Den Traum, dass wir die Grenzen öffnen und wir keinen alleine lassen, der vor Hunger und Mord flieht. Konstantin Wecker und hoffentlich viele andere mehr träumen nicht mehr still.

JUNI 2015  Hans Jacobshagen, Köln

Michael Krebs & Die Pommesgabeln des Teufels - Wellnessalarm

Als streitbarer Musikkabarettist war er mir bekannt. Sein „Mädchen von der Jungen Union“ hatte schon mal für reichlich Ärger im Sender gesorgt. Seine Aktion „Flüsterfuchs - nein danke“ hinterfragte auf sehr lustige Art und Weise pädagogische Methoden und brachte ihm ein Abmahnverfahren ein, weil er das „Atomkraft - nein danke“-Logo dafür verfremdet hatte. Michael Krebs war also als Musikkabarettist mit Sprengkraft durchaus nicht ganz unbekannt.

Sein neues Album heißt „Wellnessalarm“. Da spielt er mit zwei Musikern zusammen, die sich „Die Pommesgabeln des Teufels“ nennen. Das ist eine Anspielung auf den Gruß der Metal-Fans, also geballte Hand, Zeigefinger und kleiner Finger abstehend. Und der ist eben äußerlich identisch mit dem Zeichen für den Flüsterfuchs, mit dem kleine Kinder ruhiggestellt werden sollen, hier in der Bedeutung „Ohren spitzen, Klappe zu“.

Es beginnt mit dem Song „Über Fußball reden“, in dem sehr undogmatisch aber eindringlich „Brot und Spiele“ der Gegenwart thematisiert werden. Die einzigen Probleme, die die Welt noch hat – es gibt sie auf dem Fußballplatz. Der Song „Wellness-Alarm“ beschreibt den Wahnsinn der Ruheinseln in einer immer hektischer werdenden Welt. „Was wirst du tun, wenn das Geld die Welt regiert“ fragt Michael Krebs und lässt dazu dramatische Tonkaskaden über uns hinwegrollen und antwortet kurz und knapp: „Ich pass mich an“. Für alle Themen findet Michael Krebs einen neuen ungewöhnlichen Dreh. Da kann es um menschliche Beziehungen gehen oder um die große Politik. Immer gibt es eine überraschende Wendung. Krebs ist von Hause aus Jazzpianist – und das zeigt er auch ganz deutlich in der Geschichte vom Jazzpianisten, in den sich die Heldin des Liedes verliebt, weil er so fingerfertig ist, wenn er über ihre Saiten gleitet, die aber, wenn er musiziert, heimlich Wolfgang Petry hört. Diese Collage aus Lied, Jazzpianosolo und Hölle-Hölle-Hölle-Zitat ist einfach brillant komponiert und dabei (Achtung Wortspiel) höllisch lustig.

Auf der CD wird Krebs von zwei Musikern begleitet. Und diese beiden sind durchaus mehr als einfach nur Begleitmusiker, die das Werk eines Musikkabarettisten etwas aufhübschen. Die beiden sind gleichberechtigte Mitspieler bei der gesamten Produktion. Ihre Interpretationen und die spannenden Arrangements geben den Liedern eine neue Farbe: Das ist bunter und greller als das, was wir von Krebs bisher kennen.

Zur Ergänzung enthält „Wellnessalarm“ noch einen zweiten Silberling, eine DVD, die neben der musikalischen auch die kabarettistische Seite des Ensembles dokumentiert.

„Wellnessalarm“ ist ein durchkonzipiertes Gesamtkunstwerk, bei dem Text und Musik gleichrangig nebeneinanderstehen, sich ergänzen, kommentieren. Es zeigt, dass intelligente Musik auch witzig sein kann und darf, ohne in flachen Effekten zu verkommen. Und ja: Die Texte von Michael Krebs waren immer schon gut.

MAI 2015  Petra Schwarz, Berlin

„Gundis Lieder - Gundis Themen“ - Zur Erinnerung an Gerhard Gundermann

(p) & (c) 2015 CULTUS UG, showcasepotsdam, Pierre Wilhelm

Gundi - dieser Name ist schon lange nicht mehr „nur“ im Osten Deutschlands eine Marke in der Lied-Szene (www.gundi.de). Hierzulande sind derzeit rund 25 Gundermann-Projekte unterwegs. Einige dieser Akteure u n d solche, die im Sinne Gundermanns ihre eigenen Songs schreiben und singen, vereint das Doppel-Album mit 28 Stücken.

Am 21. Februar dieses Jahres wäre der Baggerfahrer in der Lausitzer Kohle u n d Liedermacher, der 1994 als erster Ostdeutscher für „Sehnsucht nach dem Rattenfänger“ den „Liederpreis“ erhielt, 60 geworden und möglicherweise noch immer oder wieder „zweigleisig“ unterwegs. "Wenn ich nur arbeite, verblöde ich; und wenn ich nur Kunst mache, verblöde ich auch.", sagte mir der Unruhegeist aus Hoyerswerda einmal in einem Interview. Mehr als 300 Songs bzw. Texte hat er geschrieben, die meisten für sich und einige für andere - für Tamara Danz von Silly zum Beispiel. Die in den 70er und 80er Jahren in der DDR entstandenen Texte sind - und das spricht für ihre Qualität - heute im vereinten Deutschland so aktuell wie damals. Auch die aus den 90ern sind es. Vielleicht, weil er immer wieder „laut“ darüber nachdachte, was Leben ausmacht?

Ein Grund mehr, diesen so anregenden Liedermacher, der 1998 mit 43 viel zu früh verstarb, mit diesen beiden CDs zu ehren: auf der einen mit gecoverten Gundermann-Songs, auf der anderen mit „Gundis Themen“ in 14 ganz verschiedenen Handschriften. Zum Teil Bekanntes, zum Teil Neues. Die einzelnen Lieder mögen den einen oder die andere mehr oder weniger ansprechen - das Gesamt-Paket ist eine Entdeckung.

Die Idee für dieses Tribute-Doppel-Album hatte der Kulturmanager Pierre Wilhelm, der das aufwändige Projekt auch koordiniert hat. Auf diesem sind nun Musikerinnen und Musiker zu hören, die m i t Gundi zusammen auf Bühnen standen, wie die „Seilschaft“ natürlich oder Carmen Orlet u n d solche, die Gundi früher oder später für sich entdeckt haben. Zu letzteren zählen „West-Stars“ der Szene wie STOPPOK und Konstantin Wecker. Beide singen - wie fast alle anderen - auf der ersten CD jeweils einen Song von Gundermann. Auf der zweiten CD mit „Gundis Themen“ findet sich von STOPPOK der Song „Wie schnell ist nix passiert“, der Ende 2014 / Anfang 2015 - wenn das kein Omen ist - mehrfach Spitzenreiter der „Liederbestenliste“ war. Konstantin Wecker, der mich mit seiner Interpretation von Gundermanns „Gras“ nicht so überzeugt, beschließt das Werk mit seinem eigenen „Was keiner wagt“ auf sehr authentische Weise. Aber auch ein Pop-Star aus dem Osten wie Tino Eisbrenner (zusammen mit der „LaTino-Conexion“) zählt zu jenen, die durch ihr Engagement Gundi die Ehre erweisen.

Mein Favorit unter den 24 Songs (übrigens auf unserer „CD des Monats“ April: www.liederbestenliste.de) ist - klar - ein Gundermann: Die „Grüne Armee“, interpretiert von der „Seilschaft“ mit dem Sänger Haase, Christian Haase. Als er in der Presse immer wieder las: „Der singt wie Gundi.“, fing er an, sich mit Gundermann zu beschäftigen …

Entdecken Sie dieses Werk am besten für sich selbst! Es ist in vielen Bibliotheken Deutschlands auszuleihen oder über eine Spendenkampagne bei https://www.betterplace.org/de/projects/ 26491-gundis-lieder-gundis-themen-ein-benefizalbum zu erhalten.

APR 2015  Harald Justin, Wien

Sterzinger Experience - Ashanti Blue

“Der Sterzinger” gehört schon so lange zur Musik-Szene Wiens, dass er zwar einerseits als Urgestein gilt, andererseits aber in jüngeren Austro-Pop-Kreisen schon wieder als Unbekannter verkannt wird. Wenn er mit Akkordeon, Hut und Federboa auftritt, in Clubs oder Kaffeehäusern, solo oder mit kompetenter Bandbegleitung, dann ist Charisma, eine Portion böser Humor mitsamt einer Spur anarchischem Musikspaß angesagt. Glücklicherweise ist der Endfünfziger in der Position eines Freigeistes, der dem Rest der Welt die Stirn bieten kann, indem er sich zudem locker zwischen allen musikalischen Stilen zwischen Wienerlied, Rock’n’Roll, Chanson und Electro-Experimenten bewegt.

Nach dem eingängigen und mitsingbaren Erfolgsalbum "Rock’n Roll" (2011) packt er mit "Ashanti Blue" noch eine Spur Poesie, Hintersinn und Raffinesse obendrauf, in dem er sich (und uns) die Frage stellt, was zu tun ist, wenn das Fremde in Gestalt des schwarzen Mannes plötzlich an der Tür steht und Einlass begehrt.

Fast ein Konzeptalbum beginnt es mit einem Rückblick auf die legendären Hagenbeck’schen Völkerschauen, bei denen Wiener sich zwischen Giraffen und Affen auch an einem inszenierten „Negerkral“ verlustieren durften. Jazz-Akkorde stehen am Anfang, später wird mit der Krach-Gitarre gerockt und gebluest, versöhnt klingen dann Gitarre und Akkordeon, alle paar Songs wird ans Leitmotiv anknüpfend die Begegnung mit dem Schwarzen Mann, die Begegnung mit Afrika und letztendlich seinen Bodenschätzen und den Asylsuchenden thematisiert.

Jedoch das Fremde, das sind nicht nur die Anderen. Fremd können wir uns auch selbst ein, fremd im eigenen Land, fremd im eigenen Kopf. Waidwund und mit schrägen Tönen werden zwischendurch Tod und Liebe beschworen. Sterzinger und seine Crew bewegen sich im weiten Land zwischen Lautgedicht, konkreter Poesie und einer Musik, für es keine Genrebezeichnung gibt. Das ist nicht unbedingt leichte, mitsingbare Kost, das ist aber gerade deswegen ein besonderer künstlerischer Genuss. Denn wer sagt schon, dass der Umgang mit dem Fremden von Schunkelmonstern und deren eingängigen Stammtischparolen bestimmt werden muss?

FEB 2015  Silke Aydin, Emsdetten

Prinz Chaos II. – TsunamiSurfer

Prinz Chaos II., Schlossherr auf dem thüringischen Schloss Weitersroda und Initiator des jährlichen Paradiesvogelfestes ebendort, hat vor ein paar Monaten sein Album „TsunamiSurfer" veröffentlicht. Für mich eine echte Entdeckung des Jahres 2014, so dass ich es hier gerne empfehlen möchte: das Werk erschien bei „Sturm und Klang", dem Konstantin-Wecker-Label. Eine gewisse Nähe zu Wecker scheint auch in den Liedern von Prinz Chaos durch, ähnlich intensive Gefühle in den Songs, Wut und Zärtlichkeit. Und doch tragen alle die unverkennbare Handschrift des Prinzen.

TsunamiSurfer ist ein sehr buntes Album, wie bereits der regenbogenfarbene Innenteil des Booklets erahnen lässt: bunt, queer, sozialkritisch – mit chansonesken Balladen und großen Melodien. Manchmal auch federleichten Tanzeinladungen…
Dabei nimmt Prinz Chaos kein Blatt vor den Mund. Einige sehr persönliche Lieder mit intimen Geständnissen, die man vielleicht so direkt dann doch gar nicht erfahren wollte – aber immer ehrlich und den Finger in die Wunde gelegt.

„Queer as Folk (Tanzen)" ist z.B. so ein Song mit eindringlicher Botschaft: für Toleranz, gegen Homophobie. „Ihr liebt Tim, Georgette und Biolek! Und ein Gedicht von Oscar Wilde, nur diese Tunten, die mögt ihr nicht / Wir sollen ausgeflippt und schrill sein – und dabei total normal / Müssen Schwulenwitze lustig finden, Kinder, wartet mal!"
Und „… dass man sich wärmt, in der Nacht!" thematisiert die Liebe, hier wohl die zwischen Männern, lässt sich aber auch auf die partnerschaftliche Liebe in jeglicher Form übertragen. Prinz Chaos‘ Textzeile „… und unsere kranken Nachbarn, die auch…" ist an den letzten Vers des Abendliedes (Der Mond ist aufgegangen) von Matthias Claudius angelehnt, und wer genau hinhört, erkennt sogar kurze Passagen der Melodie des vertonten Abendliedes.

Der Opener „TsunamiSurfer" beschreibt die moderne Lebensart, immer hart am Wind, mit einem Bein am Abgrund. Risikofreudigkeit, aber auch Leben auf Kosten anderer – was des einen Freud ist des anderen Leid.
Dann „Weitersroda" – eine Exkursion in die bewegte Geschichte des Ortes Weitersroda, der hoffentlich noch viele „Gefährliche Zeiten", wie in der „Ballade im Stil vorangegangener Weltuntergänge" besungen, überstehen wird.
„Soldatenliebe" ist ein Antikriegslied und beschreibt einfühlsam, wie ein Soldat in Afghanistan die Zeit des Einsatzes nur durch die Fernliebesbeziehung zu seiner Freundin überstehen kann… - mein Favorit des Albums: es bezieht deutlich Stellung zu aktuellem Tagesgeschehen, ist aber dabei trotzdem sanft; Wut und Zärtlichkeit eben. „Soldatengrüße kommen an! Auch von der Grenze zu Pakistan / Dahin schick ich Dir ne superheiße Mail / Schweig von den Toten, die ich vor Dir liegen seh".

Man sieht hier bereits, dass die Themen des Albums sehr vielfältig sind. 14 Lieder aus den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen, kritisch betrachtet: der moderne Arbeitsmarkt („Freelancing Slave"), der Kult um den Papst („Das Papamobil"), Mythos um „Marrakesch",…

„Tomorrow, my boy" – trotz englischem Titel kein (rein) englischsprachiges Lied – ist laut Booklet Sepehr Masakeni, einem iranischen Lyriker, gewidmet und kommt als sehnsuchtsvolle Liebesballade daher.

Ein weiteres Highlight der CD ist der Nachruf auf die drei großen Liedermacher Degenhardt, Kreisler und Hirsch, die 2011 innerhalb von 10 Tagen im November verstarben. „Schwarzer November": „Ein Liedermachersterben / Die Lieder, die wir erben / Tausend Lieder – bunt & schwarz."

„Schloss im Schnee" bildet den perfekten Abschluss des Albums: mit seinem nepalesischen Mantra „Om Tare TuTare TureSoha" schafft es eine mystische Stimmung und lässt den Hörer verzaubert zurück.

MÄRZ 2015  Michael Lohse, Köln

Christoph Theussl - Endlich - Lieder für alle die noch leben

Das Wichtigste vorweg: Wir werden alle sterben. Keine besonders originelle Erkenntnis, die uns Christoph Theussl da unter die Nase reibt, werden Sie sagen. Mag sein, aber wenn man schon mit unangenehmen Wahrheiten konfrontiert werden muss, dann doch bitte von einem Österreicher: "Wia weadn olle steabm" – das klingt doch gleich viel weicher und angenehmer. Da fällt doch das los lassen nur noch halb so schwer.

Ein ganzes Doppelalbum lang erfreut uns der in der Steiermark geborene Liedermacher Christoph Theussl mit Variationen über das Sterben vom morbiden Blues über die gruselige Moritat bis zum groovigen Chanson. Nach dem Debutalbum „Antilogie 1“ nun also schon wieder eine Anthologie: 13 Lieder auf zwei CDs über den Tod. Ein ziemlich ungewöhnliches Projekt für einen gerade mal 39jährigen, der noch ziemlich am Anfang seiner Liedermacher-Laufbahn steht. Andererseits: Johann Sebastian hat sich eigentlich sein ganzes Leben lang mit nichts anderem beschäftigt. Und in Österreich befindet man sich bei dem Thema ohnehin in bester Gesellschaft. Man denke an Georg Kreisler und Ludwig Hirsch. Doch Theussl kopiert die beiden nicht.

Wo Kreisler auf den kabarettistischen Knalleffekt setzte und Hirsch sich im tiefsten Abgrund der Verzweiflung suhlte, da wählt Theussl den Mittelweg. Er gönnt sich Blödel-Refrains in Kreisler-Manier über die „Leich im Koffaraum“, aber gleichzeitig erzählt er ganz ohne Pointenzwang vom Leben eines Konzernchefs. Er versetzt sich wie Hirsch in die Lage eines Toten, aber nur um lakonisch zu seufzen: „Wie – i bin jetzt tot oda wos / und wos passiat jetzt mit meim handy vatrog / den i am montog noch grod valengat hob.“

Theussl gelingen Ohrwürmer wie das locker groovende „Ea is gsund gstoabm“ mit seinen einschmeichelnden Chorarrangements, er konstatiert zynisch „Der schönste Tag zum Sterben ist leider schon vorbei“ und greift tief in die schwarzhumorige Schublade mit seiner „Moritat von den zwei frittierten Katzen“. Aber das Album erschöpft sich nicht in Spielerei und kalkuliertem Nonsens. Neben dem witzigen Theussl gibt es auch den Melancholiker, der um die Tragik des Lebens weiß. Zum Beispiel in der wunderbaren Gänsehaut-Ballade „Ualaub in Bad Steabm“. Theussl reizen die Tabuthemen. Das hat er in der Vergangenheit bewiesen mit blasphemischen Provokationen gegen seine katholische Erziehung. Jetzt hat er erkannt, dass Tod und Krankheit immer noch die größten Tabus einer aufs Funktionieren getrimmten Gesellschaft sind.

Mit seinen Liedern will er den Tod normaler machen, auch seine lächerlichen Seiten zeigen. Das gelingt ihm mit leichter Hand auch dank seines Steiermark-Dialekts, dem er auch als Wahl-Münchner treu bleibt. Denn der hat eine ganz eigene poetische Kraft. Oder wo sonst trifft man auf ähnlich charmante Umschreibungen wie „Holzpyjama“ für einen Sarg.

JAN 2015  Kai Engelke, Surwold/Emsland

Georg Breinschmid - Double Brein

Puristen aus dem Lied- und Songbereich werden möglicherweise mit dieser CD-Empfehlung ihre Schwierigkeiten haben: Georg Breinschmid, ein österreichischer Musiker mit klassischer Ausbildung (Hauptinstrument: Bass), veröffentlicht eine Doppel-CD, wobei die erste CD gerade mal fünf Lieder präsentiert, die obendrein musikalisch im Jazz-Bereich anzusiedeln sind, und die zweite CD, stilistisch dem Klassikgenre zuzuordnen, gar überhaupt kein Lied im herkömmlichen Sinne anzubieten hat. Sei‘s drum – dieses genresprengende Werk ist dermaßen vielfältig, intensiv und ungewöhnlich, dass eine besondere Hervorhebung geradezu notwendig erscheint.

Welcome back überschreibt Georg Breinschmid seine einleitenden Worte und spricht in der Folge von schweren Krisen, einer durcheinandergeratenen privaten Welt und großen Hindernissen, die es zu überwinden galt. Offensichtlich geht es um eine schmerzhafte Trennung und deren Folgen, die der Künstler mithilfe seiner Musik zu verarbeiten suchte. Sind nicht schon häufig die größten Werke auf der Basis von Verlust und Leid entstanden?

Breinschmid selbst beschreibt seine Musik als „natürlich nach allen Seiten offen und nie nur ein ,reiner‘ Stil – so wie das Leben selbst.“ Diese Sicht- und Herangehensweise erweitert mit Sicherheit den musikalischen Horizont und beseitigt (im günstigsten Fall) Scheuklappen. Breinschmid kooperiert mit Jazz-, Caféhaus- und Klassikmusikern, und er schwärmt von der Zusammenarbeit mit Musikern aus der Wiener Folk-Szene.

„Samba for Michi“ ist ein von der Liebe inspiriertes Stück – die Liebe ging, der Samba blieb. Natürlich passt auch eine Musette bestens zum Thema Verlorene Liebe, immerhin versieht Breinschmid seine Komposition mit einem positiven Schluss. Auch witzige, skurrile Situationen, wie sie im Lied „Gabriel“ geschildert werden, können trösten. Die Einsicht, einen neuen Anfang zu wagen, ist relativ schnell vorhanden – Breinschmid besingt sie in seinem Lied „Wunder“ – doch Theorie und Praxis liegen bekanntermaßen oft weit auseinander.

Eine lange Dankeshymne („Danke“), nur Stimme und Bass, verdeutlicht Breinschmids hintergründigen Humor auf skurrile Weise:
„Meinem Tischler, danke für die Möbel
für das Wahlergebnis danke an den Pöbel
dem Django Reinhardt für die Musik
und der Elisabeth, sie war mein höchstes Glück.“

Ach, ja. Und bei aktuellem Seelenschmerz darf selbstverständlich ein Blues nicht fehlen („Blues in the Kitchen“). Ein eher ungeeigneter, doch häufig benutzter Trostspender ist der Alkohol („B‘soffm in Heanois“). „Brein in da Koffihaus“ spielt mit Dub- und Reggae-Elementen und signalisiert fast schon ein Ende der Krise.

Die zweite – liedfreie – CD offeriert einige von Breinschmids Lieblingskomponisten in phantasievollen, eigenwilligen Arrangements: Franz Liszt, Guiseppe Verdi, Johann Sebastian Bach und natürlich einige zeitgenössische beziehungsweise Eigenkompositionen im klassischen Stil.

Ein anspruchsvolles, in vielerlei Hinsicht besonderes Werk.

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