Persönliche Empfehlung Lied

Reihum gibt eine/r der JurorInnen in dieser Rubrik ihre/seine persönliche Empfehlung für ein Lied ab und begründet diese schriftlich.

DEZ 2009  Danuta Görnandt, Krams

Manfred Maurenbrecher - Agit-Prop 08

Dass es die schönsten Dinge nur umsonst gäbe, wie in der Schlusszeile dieses Liedes behauptet, gehört zu den Postulaten, die gern genommen, aber doch bezweifelt werden dürfen. Noch schwieriger ist es mit der expliziten Ankündigung der Rückkehr des Agitpropsongs. Gut nur, dass es sich um ein Lied von Manfred Maurenbrecher handelt, dessen verschmitztes Understatement seit Jahren genauso sicher zu ihm gehört wie die Tatsache, dass so manche seiner Texte „aus der letzten Woche“ extrem lang haltbar sind und Bestand haben.

Dieses Lied über die sehr verschiedenen Formen und Adressaten von Fürsorge in unserem Land entstand im September 2008, zu einem Zeitpunkt also, da der Begriff der Finanz- und Wirtschaftskrise in ihrer jüngsten Ausprägung noch recht frisch wirkte in den medialen und politischen Äußerungen. Ungläubiges Beobachten eingeschlossen. Dass Maurenbrecher das Lied jetzt, im Herbst 2009, in einer Liveaufnahme aus dieser Zeit auf seine neue CD Hoffnung für alle presst, sagt etwas über die Nachhaltigkeit seines künstlerischen Schaffens. In gar nicht so vielen, aber dafür scharf geschliffenen Worten arbeitet sich Maurenbrecher an der „seltsamen Sitte“ ab, dass die Gemeinschaft den Einzelnen in der Lage ist zu tragen, zu halten und zu schützen – „egal was kommt“. Dann spielt er diese Regel auf den höchst verschiedenen Ebenen des Tuns durch und schnell erweist sie sich als überholt: Der ungezügelte und freie Spieler wettet und spekuliert bis aus dem Riesenreichtum eine Riesephantasie wird und am Ende „halbe Staatshaushalte“ auf ihn geschüttet werden müssen. Die, die noch arbeiten, stehen betreten daneben – eben wären sie selbst noch gern dabei gewesen, aber nun ist das Spiel erst mal aus. Dumm vor allem aber, dass die Armen so unbeteiligt herum stehen, so verkrampft und so auf den Pfennig bedacht, dass die anderen fast die Lust am Spiel verlieren, aber eben nur fast.

Maurenbrecher Vorzug ist es, wieder einmal seiner Zeit ein kleines Stück voraus gewesen zu sein und diesen Vorsprung in Poesie übersetzt zu haben. Und so sitzt er in seiner liebsten Position am Klavier, plaudert entspannt und gaukelt uns vor, gerade eben auf diese etwas ketzerischen Gedanken über den Zustand Welt gekommen zu sein, ganz nebenher und so, dass am Ende wir bald viel radikaler reden werden als gerade er. Wenn das als Merkmal eines Agitpropsongs gelten kann – dann bitteschön haben wir es mit einem besonders gelungenen Exemplar zu tun! 

NOV 2009  Matthias Inhoffen, Stuttgart

Wenzel - Unterwürfiger Schlager

Der vor 54 Jahren im Kreis Wittenberg in Sachsen-Anhalt geborene Hans-Eckardt Wenzel bereichert die deutschsprachige Liedszene mit einer ganz eigenen Farbe. Liedermacher darf man wohl nicht sagen, mit diesem Wort verbinden viele Menschen heutzutage etwas ziemlich Graues, um nicht zu sagen: Staubiges. Wenzel selbst bevorzugt – nachzulesen auf seiner Homepage www.wenzel-im-netz.de – die Bezeichnung Poet. Hinter dieser eher bescheiden-pastellfarbenen Sprachästhetik verbirgt sich schillernde Vielfalt: Sänger, Instrumentalist (Akkordeon, Piano) und Liedtexter, Buchautor und Stückeschreiber, Kabarettist und Theaterregisseur. Ein bunter Vogel also, aber einer, der seine Sache mit großem Ernst angeht.

Umso überraschender das neueste CD-Projekt des Poeten Wenzel: Die typisch deutsche Trennung zwischen Kunst und Trivialkultur überschreitet er mit einer Sammlung von Songs, die nicht auf den geduldigen, konzentrierten Zuhörer zielt, sondern aufs Tanzbein und den trinkfreudigen Gast. Die Wirkung dieser Lieder aufs Publikum haben Wenzel und Band erprobt – mit ihren jährlich wiederkehrenden Auftritten am Hafen von Kamp. Beim Hören der CD erweist sich: Diese Moritaten, in denen manchmal ein Hauch des frühen Brecht anklingt, funktionieren auch im Wohnzimmer.

Am besten gefallen hat mir gleich die erste Nummer, „Unterwürfiger Schlager“. Köstlich, wie der Sänger Wenzel, der eben auch Entertainer und Clown ist, mit Süffisanz und Ironie hier die Lust am Leid, am Leben als ewiger Underdog rüberbringt. Das ist derb, nicht eben zimperlich in der Wortwahl – und gibt doch stark zu denken. Wenzel weiß, welche Abgründe sich hinter der geschmeidig-gefälligen Fassade vieler Schlager verbergen – und er zerrt sie auf vergnüglich-unterhaltsame Weise ans Licht.

OKT 2009  Kai Engelke, Surwold

Schoyfler - Was ist!

Die Eingangsmusik klingt nach Zirkuskapelle, Tingeltangel, Kirmes. Trompeten, die an Fanfaren erinnern, Trommelwirbel, Wumptata – die Tuba… Gleich öffnet sich der schwere rote Samtvorhang und die Vorstellung kann beginnen. Und dann, fast wie beim Blues: „Woke up in the morning, found my Baby gone.“ Diese Worte hören wir aber nicht wirklich. Stattdessen: „Ich heule in das Kissen/ in dem sie gestern noch lag/ heut‘ Morgen nahm sie ihre Koffer/ Was ist das für ein Tag!“ Aaugust (bürgerlich Andreas August), der seine Band Schoyfler nennt, singt mit leicht nasaler Stimme, wie durch ein Megaphon. Dazu scheppert der krumme Balkanblues im Fünfvierteltakt. Klingt irgendwie ein bisschen nach Tom Waits in der Garage, ist aber Schoyfler aus Frankfurt.

„Sie versteht immer nur Mondschein
egal, was ich auch sag‘
sie missversteht jetzt einen andern
was ist das für ein Tag!“

Dann der Refrain, den kannst du gut mitsingen. Sollst du wohl auch. „
Was ist, was ist, was ist, was ist, was ist das für ein Tag!“
Dein Oberkörper schwingt sanft im Takt der Musik hin und her.

Diese Mixtour aus Tragik und Komik, die hat wohl jeder schon einmal erlebt – aber eher selten zu solcher Musik, die ist nämlich ziemlich anders, vertrackt, näher bei Hanns Eisler und Kurt Weill, als bei herkömmlichen Popklängen. Die Schwermut der Melancholie kann ungeheure Kräfte freisetzen, konstruktive und destruktive, ein bittersüßer Balanceakt. Und diese Energie überträgt sich auf den Zuhörer. Kommt nur drauf an, was er daraus macht.

Jetzt das Instrumental-Solo mit brachial verzerrter Gitarre und Trompete. Genau zum richtigen Zeitpunkt! Emotion pur!

„Wie soll ich je vergessen
wie sie da im Pyjama lag
nach Parfum duftet ihr Kissen
was ist das für ein Tag!“

„Was ist!“ ist einer von zehn Songs auf der soeben erschienenen Schoyfler-CD Rauschwerte. Musikalisch hebt sich diese Produktion allein durch die krummen Balkan-Grooves schon beim ersten Hinhören wohltuend von der Masse der derzeitigen Veröffentlichungen ab. Und textlich? Es gehört sicherlich zur Kunst eines Autors, ein allseits bekanntes Phänomen – zum Beispiel von dem geliebten Menschen verlassen zu werden – immer wieder so klingen zu lassen, als geschehe das Gesungene gerade zum allerersten Male. Und genau das gelingt dem Aaugust, Sänger, Autor, Gitarrist, Pianist und Trompeter seiner Band Schoyfler in ganz besonderer Weise. Man sieht ihn förmlich mit ausgebreiteten Armen auf die Welt, auf sein Publikum zugehen, eine Träne rinnt über seine Wangen, aber er lächelt, ein Clown in der Manege – die Show muss immer weitergehen.

Apropos Balkanblues: Aaugust ist als Sänger seit dreißig Jahren mit der bekannten Frankfurt City Bluesband „on the road“.

SEPT 2009  Martin Steiner, Winterthur, Schweiz

Annamateur und Außensaiter: Nabelschau

„Die Nabelschau beginnt um sieben. Der Borderliner geht um acht. Der Facesitter hat mich versetzt. Die Leihmutter hat noch ein Kind vorbeigebracht. Mein Busen hat mir mein Leben versaut. Mein Hut der hat drei Ecken. Die haben mir die Zeitung geklaut. Ich filme mich beim Verrecken. Egal was passiert, halt die Kamera drauf.“

Überall Kameras. An jeder Häuserwand ist eine montiert. Die Kamera beleuchtet unser Innen- und Außenleben. Wenn sich im Fernsehen die Paare an die Gurgel gehen, wenn sich Jugendliche auf der Strasse prügeln: Egal was passiert, halt die Kamera drauf. Banalitäten, Sex, Gewalt. Irgendwer wird sich schon dafür interessieren. „Egal was passiert, halt die Kamera drauf.“

„Nabelschau“ ist eines der dreizehn Stücke auf Walgesänge, dem neuen Album der Sängerin Annamateur, die mit bürgerlichem Namen Anna-Maria Scholz heißt. Annamateur kann tatsächlich Töne wie ein Wal ausstoßen. Walgesänge ist jedoch auch als Ganzes eine „Nabelschau“. Gefühle, echte oder falsche, werden mit mehr als einem zwinkernden Auge ausgelebt. So gesehen wäre „Nabelschau“ auch ein passender Titel für das Album gewesen. Das Lied „Nabelschau“ wird wohl nie im Radio gespielt werden, dazu ist es zu lang, zu experimentell, zu wenig melodiös, zu sperrig. Hingegen besitzt es alle Ingredienzien, die Annamateur und Außensaiter einmalig machen. Da ist diese wunderbare Sängerin, die säuselt, seufzt, schluchzt und schreit. Annamateur wechselt nahtlos vom Jazz- zum Skatgesang und weiter zum Belcanto, mit einer Wucht und einer Zärtlichkeit, die umhauen. Und da sind ihre Begleiter: Allen voran Stephan Braun, der mit seinem Cello auch wie ein Wal singen kann. Die beiden Gitarristen Reentko Dirks und Daniel Wirtz überzeugen mit feinem bis wuchtigem, akustisch-jazzigem Spiel.

„wir sind Grenzgänger, wo keine Grenzen mehr sind, Medienschwämme.
Wir sind durchlässig und blind. Wisst ihr was los ist?
Helden müssen her! Schlafgestörte, angefickte Weltverbesserer“

Das Lied „Nabelschau“ hat in der Zwischenzeit noch an Aktualität gewonnen. Einer dieser Grenzgänger, bei dem permanent die Kamera drauf war, ist gestorben und postum definitiv zum Helden gekürt worden: Michael Jackson. Sein Lied „Bad“ findet sich übrigens in einer hinreißenden, akustischen Version auf dem Album. Am 16. Mai 2009 erhielt Annamateur in Erfurt den Salzburger Stier. Wir gratulieren. 

AUG 2009  Eva Kiltz, Berlin

Klez.e - Wir ziehen die Zeit

„Für mich stand im Vordergrund Zeit die vergeht. Was gibt es für Möglichkeiten, die Zeit aufzuhalten?“, beschreibt Bandmitglied Tobias Siebert im Berliner Radio Eins die Intention des Songs. In „Wir ziehen die Zeit“, erschienen im März 2009 auf dem klanglich wie visuell opulent gestalteten Album Vom Feuer der Gaben auf dem kleinen Berliner Independent-Label Loob Musik, beschwören Klez.e den Zauber der Vergänglichkeit. Auch Enttäuschung schwingt mit, Aufbegehren gegen die Endlichkeit des perfekten Augenblicks, gegen das unerbittliche Vergehen der Zeit: „
Ist das alles?
der schönste Moment
der beginnt und gleich wieder trennt“.

Die Berliner Band Klez.e um Studiobetreiber Tobias Siebert schöpft aus den Vollen: ein für eine deutsche Produktion ungewöhnlich voller, großer Sound, dicke Gitarrenteppiche, intensive, klagende Melodie und dazu deutsche Texte mit dem Mut zur Ernsthaftigkeit, die sich dennoch nicht bis ins Detail erklären muss. Wann hat es das zuletzt gegeben? Ihren Namen erhielt die Band Klez.e von einem Computervirus und tatsächlich liefern Tobias Siebert, Patrick Vollperg, Filip Pampuch, Daniel Moheit und Christian Schöfer einen Befindlichkeits-Soundtrack ab, der so schnell nicht mehr von der inneren musikalischen Festplatte zu löschen ist. Die hier schreibende Hörerin hat übrigens getan wie vom Erzeuger empfohlen („Man muss die Songs erfühlen und nicht versuchen zu verstehen“), und ist der Meinung, dass es um nichts weniger als das ganz große Glück geht. Das Leben ist kein Irrtum, solange es solche Musik gibt. 

JULI 2009  Petra Schwarz, Berlin

Ringsgwandl - Welt im Krieg

Nicht mit langem blonden Haar und auch gänzlich ohne Schminke: Ringsgwandl kommt unrasiert (oder ist es ein Drei-Tage-Bart?) daher, mit großer dunkler Sonnenbrille und Wollmütze. Er erzählt auf seiner nagelneuen CD „Geschichten aus einem Viertel, in dem die Mehrheit aus Minderheiten besteht“. Untersendling heißt dieses und es handelt sich dabei um die „unaufgeregte Gegend um die Großmarkthalle“, wo es „wenig Gnade“ gibt, „aber immer Hoffnung“.

Eindrücklich sind die meisten Songs auf Untersendling. Entschieden habe ich mich – nach langem Kampf mit mir selbst gegen den anderen Favoriten „Zugehfrau“ – f ü r „Welt im Krieg“. Ein Stück, das sich am Anfang ganz unschuldig gibt; das ganz „harmlos“ mit akustischer Gitarre anfängt, das sich so reinschleicht. Aber dann: die Bluesgitarre des grandiosen Nick Woodland, der – wie zu lesen ist – „früher einmal beinahe den Fehler begangen hätte, bei den Rolling Stones als Gitarrist einzusteigen“. Da muss man zuhören, da gibt es kein „Sich Entziehen“!

Georg Ringsgwandl ist der Komponist des Songs und hat – wie von allen Stücken auf der CD – den Text geschrieben. „Welt im Krieg“ beschreibt – eher beiläufig – den täglichen Wahnsinn und wie wir, im Bett liegend, zuschauen: „Die Welt vergeht im Krieg, in Grausamkeit und Wahn, während wir noch überlegn, ob ma nur schaun oder wos tan.“

Das ist ganz klar kein Protestsong, d i e Zeiten sind vorbei! Und doch kann ich mich der Frage nicht erwehren: Warum eine derart inaktive Darstellung? W i r liegen im Bett? Nein! Doch! Die Welt ist so, höre ich mich selbst sagen. Oder: Scheint die Welt nur so zu sein?
B e i d e s findet sich – möglicherweise sogar in der Welt e i n e r Person vereint?! „Welt im Krieg“ rüttelt auf – immerhin! Erst einmal zum Nachdenken. Zum „was dagegen tun“? Vielleicht!?!

Ich lese noch dieses und jenes über den Künstler. „Ein Punk-Qualtinger, ein Valentin des Rock"n"Roll, ein bayerisches Genie. Ein Mann wie ein Leuchtturm, Geheimtipp der Verirrten. Der Oberarzt als Punk, verhauter Rock‘n‘Roller und intellektueller Robin Hood.“ So schreibt Die Zeit über Ringsgwandl. Das gilt wohl – für alle Zeiten! 

JUNI 2009  Michael Laages, Michael

Bernadette LaHengst & Der Freiburger Bettler-Chor - Avantgarde-Bettler

Christine-Sophie Arnold, Falko Gottsberg-Jakobs, Hannes Gotzes, Uli Herrmann, Dietrun Jochim, Jeannette Joseph, Georg Kaiser, Johanna Krause, Sonja Seelig, Hannes Moritz und Wolfgang Steidel sind Experten – sie waren Bauwagenbesitzer oder Flaschensammler, sind Hartz-IV-Empfänger und/oder wissen, was Betteln heißt. Sie sind der Chor, mit dem zusammen Bernadette LaHengst die Profile zeitgenössischer „Avantgarde-Bettler“ aufgeschrieben hat – die sind nicht mehr an zerlumpter Kleidung und leeren (oder vollen) Billigbierflaschen erkennbar, sondern heißen Opel und Karstadt und Bayerische Landesbank: eben Börsen-Bettler, Investoren-Bettler, Ohne-Kapital-Bettler, globale Bettler und Schuldenberg-Bettler. „Wir sind die Die-ihr-braucht-um-euch-besser-zu-fühlen-Bettler“ singt der Chor.

Und in der Tat: Das ist die Avantgarde des Bettelns – und der Song, entstanden am Freiburger Theater für „Die Bettleroper“, einem Projekt mit Menschen von der Straße unter Leitung von LaHengst und dem Schweizer Regisseur Christoph Frick, ist ein ebenso knapper wie zutreffender Kommentar zur Krisen-Lage. Auf der Bühne spielen die Chor-Mitglieder sechs Schauspielern vor, wie sich‘s überleben lässt auf der Straße und fast ohne jede Sicherheit; und die sieben Songs dazu schrammelt ruppig und roh, bluesig und rockig La Hengsts Strom-Gitarre. Die Bettel-Experten singen dazu von den Gefühlen und Ängsten des eigenen Alltags – und es braucht keine Theorie, keinen Überbau, und nur ein bisschen Poesie in der Zuspitzung durch La Hengst, damit diese Songs ans Herz und unter die Haut gehen. Besser können Kunst und Alltag kaum zusammen klingen – das Freiburger Theater hat‘s vorgemacht. Deshalb gibt‘s die Songs auf CD auch nur dort. 

MAI 2009  Michael Kleff, Bonn

Pippo Pollina & Linard Bardill - Lampedusa

Den Schweizer Liedermacher Linard Bardill und seinen italienischen Kollegen Pippo Pollina verbindet seit vielen Jahren eine enge Freundschaft, die u. a. bei gemeinsamen Auftritten und Albumprojekten hörbar zum Ausdruck gebracht wird. Die jüngste CD der beiden Musiker beschäftigt sich mit den Themen Aus- und Einwanderer, Fremde und Heimat. Ausgangspunkt ist das Caffè Caflisch, gegründet von einem aus den Bündner Bergen nach Palermo in Sizilien ausgewanderten Schweizer. Dort soll der Romancier Giuseppe Tomasi di Lampedusa sein bekanntestes Buch geschrieben haben. Und auch Pipo Pollina trank im Caflisch seinen Kaffee. Damals war er noch kein Liedermacher, sondern wollte noch Rechtsanwalt werden. Doch irgendwann nahm der Sizilianer seine Gitarre und wanderte in die Schweiz aus, um dort eine Karriere als Cantautore zu beginnen.

Vor über 20 Jahren sangen Bardill und Pollina in ihrem ersten gemeinsamen Programm „I nu passaran“, dass die Faschisten, Rassisten und Ausländerhasser nicht durchkommen würden. Heute müssen die beiden Künstler einräumen, dass sich ihre Hoffnung als falsch erwies. Überall in Europa werden die Grenzen dicht gemacht. „Früher konnten Familien wie die Caflischs auswandern und in Palermo ihr Glück finden. Heute ertrinken tausende von Menschen auf der Überfahrt von Afrika nach Europa, und wir schauen weg. Wie lange können wir uns so etwas noch leisten?“, meint Linard Bardill (s. Folker!, Heft 1/09, www.folker.de). Und davon handelt eindrucksvoll sein Lied „Lampedusa“, das unseren Luxussorgen die existenziellen Nöte der Armutsflüchtlinge gegenüberstellt: „Während sie ihre Luxusprobleme / zum Problem aller machten / und der ganzen Welt ihr System / von Ohnmacht und Macht verpassten / versoffen die anderen wie Ratten im Meer“. Der in dem Lied zum Ausdruck gebrachten kämpferischen Poesie gegen Migrantenfeindlichkeit und gegen die macht-die-Grenzen-dicht-Rhetorik entspricht die an Konstantin Wecker erinnernde musikalische Präsentation mit „vollem Orchester“. 

APR 2009  Michael Laages, Berlin

Michael von der Heide - Hotel Paradiso

Nach diesem Titel, dem 11. in deutscher Sprache, folgen auf der jüngsten CD des Schweizer Chanson-Unikats Michael von der Heide noch drei auf Französisch – und dass dieser Sänger, in Deutschland auch nach gut zehn Jahren im Geschäft immer noch eine Art Geheimtipp, den Brückenschlag hinüber ins Mutter- und Vaterland des Chansons beherrscht, das beweist auch die Phantasie vom „Hotel Paradiso“.

Ein Niemands- und Jedermannsland ist diese Herberge (und das heißt: die Welt!) für die Ortlosen, die Unruhigen, die Liebenden (und Lebenden) ohne festen Wohnsitz; zu Hause sind sie nirgends wirklich und für immer. Eine „Paradiso“ ohne Paradies – irgendwo auf der Welt ist es immer gerade 6 Uhr am frühen Abend und also Happy Hour, Cocktail-Zeit; irgendwo in irgendeinem Zimmer 10 wartet auch immer die Liebe fürs Leben, aber gerade hier und jetzt fehlt aller Mut, hinein zu gehen und drin zu bleiben. Sparsam und poetisch zeichnet die Sprache den Zustand des Durch-die-Welt- und Durch-die-Zeiten-Gehens, träumerisch verliert sich die Musik der Strophen in einer kleinen Dreiklangdimension, die ganz verblüffend Dur- und Moll-Empfinden in eins zusammenmischt, Heiterkeit und Zuversicht also vermengt mit Tristesse und Melancholie. Der Refrain ist dann Mainstream: einchecken, auschecken – der tägliche Kram. So hat mal Erich Kästner eine Sammlung seiner Texte überschrieben.

Wer unterwegs ist (und wie das Ich im „Hotel Paradiso“ immer sagt und sagen wird: „Ich bleibe Gast!“), der kann nicht anders. Das ist kein Politik- und/oder Zeitgeist-Kommentar, das ist eine kleine, träumerisch-traumatische Momentaufnahme vom Zustand des Menschen, von Bewusstsein und Sein. Auf engstem Lieder-Raum, und dennoch ganz leicht und ohne jeden Druck im sanft-schwebenden Ton des Michael von der Heide, ist das eine ganze Menge für ein deutsches Lied.

Vielleicht wirkt es ja deshalb so französisch?

MÄRZ 2009  Peter Eichler, Leipzig

Stellmäcke & Band - Augenlied

Blickpunkt Augenlid oder Augenlied – das ist hier die Frage. Stellmäckes Song umreißt in unverschämt offenen Worten, dass der Künstler, und sei er noch so produktiv, immer noch seine bessere Hälfte braucht, um über die Runden zu kommen. Das Zitat aus Lessings Emilia Galotti, der Maler Conti dem Prinzen antwortet: „Prinz, die Kunst geht nach Brot“ wird in diesem Lied offensichtlich zerlegt: Er geht seiner Kunst nach und sie geht nach Brot.

Stellmäcke gewährt einen tiefen Einblick in den (seinen?) künstlerischen Produktionsprozess, der vor allem im Suchen zu bestehen scheint. Im Suchen nach einem Plan, nach einem Ziel, nach der Idee für ein Lied. Und im Ringen um das geschliffenen Wort, die wohlklingende Melodie werden dem Liedermacher zur Mittagszeit die Augenlider schwer und es wird deutlich: schwere Augenlider machen es schwer, Lieder zu schreiben.

Stellmäcke, der ein großer Poet ist, lässt uns in „Augenlied“ nah an sich heran und wirft einen ironischen Blick auf das „Lieder machen“. Er gesteht ein, dass der Künstler essen und vor allem auch schlafen, seine Augenlider schließen muss, da sonst der Blick für das Schöne verloren geht, zumindest aber getrübt würde. Ein witziges Lied, das all jenen Hörern die Augen öffnet, denen der Alltag eines Liedermachers bisher völlig fremd war. 

FEB 2009  Stefan Rögner, Frankfurt am Main

Lothar von Versen - Der Abt!

Lothar von Versen zählt zu den Liedermachern, die Geschichten erzählen. Sein Vortrag lebt von sprachlicher Eleganz und gefühlsbetonter Gestikulation und Mimik. Er widmet sich seinem Publikum, nimmt sich Zeit fürs detailgetreue Fabulieren und genießt die Konversation. Weil er sich nicht in Allgemeinplätzen verliert und ob seiner präzisen Artikulation – d a wird keine Silbe verschluckt, sondern genüsslich ausgekostet – wird er in die „Schublade“ des Kabarett-Altmeisters Hanns Dieter Hüsch und des wortwitzigen schlagfertigen Berliners Wolfgang Neuss eingereiht.

Anstoß zu seinem Couplet „Das ist der Abt!“ war eine Begegnung in einem spanischen Benediktinerkloster. Einer der Mönche erklärte voll Begeisterung, wer für all die Errungenschaften dieser fortschrittlichen Institution gesorgt hat: eben der Abt, ein toller Animateur, der überall und bei allen außerordentlich beliebt ist, ein Tausendsassa. Humorvoll schildert Lothar von Versen einen ganz durchtriebenen und lockeren „Typen“, der als Jesus ergebenster Diener jazzt, bluest, rockt und rappt und seine Mönche beim Fußballspiel trainiert. Im Kreislauf der gottbestimmten ständigen Erneuerung allen Lebens sorgte dieser von allen umschwärmte Abt – wie könnte es anders sein? – mit Mäxchen für Nachwuchs, zwar nicht ganz legitim, aber letztendlich naturbedingt zu aller Zufriedenheit und zur eigenen und der Mutter Freude. Bei dieser an sich harmlosen Strophe hätte es bestimmt vor etlichen Jahren noch Ärger gegeben. Als vor 40 Jahren Schobert & Black ein Lied über das menschliche Bedürfnis des Papstes sangen, gab es wegen dieser „Blasphemie“ noch einen Aufschrei. Heute amüsiert man sich über so etwas. Insofern wird Lothar von Versen mit keinem „Sakrileg“ anecken, selbst wenn er seinen sympathischen Gottesmann sich die Tollste der Nonnen der Ursulinen zu einem „Sündchen“ schnappen lässt.
Das ungewöhnliche Lied – es umfasst nach der Ansage noch zwei Tracks – ist keine Kritik an einer Weltanschauung oder einem Kirchenpersonal, sondern ein hohes Lied auf einen Kirchenmann. Showelemente erinnern an Karneval. Freudlosen Religionen stellt man als Christ, meint Lothar von Versen, eine frohe Botschaft entgegen.

Nun ist „Der Abt" beileibe kein Evangelium. Es ist eine übermütige Schilderung, zu der der musikalische Vortrag Lothar von Versens exzellent passt. Getragen und feierlich sozusagen der „Introitus“. Als Mönch beschreibt Lothar von Versen spirituell mit feierlichem Geläute und pseudo-gregorianischem Gesang seinen Weg zu den Benediktinern, die in lauschigen Kreuzgängen promenieren und erlesene Delikatessen probieren. Und wem verdankt man das feudale Leben? Ja, natürlich dem Abt. Da geht auch schon die Post ab. Von jetzt ab wird gejazzt. Und warum wohl diese persönliche Empfehlung? Man möchte halt auch, wenn man schon nicht der Abt sein kann, wenigstens so angehimmelt werden wie dieser Abt.

JAN 2009  Mike Kamp, Bad Honnef

Peter Gutzeit - Hartz IV

Nein, große Kunst ist das nicht, was das hanseatische Quartett um den Gruppengründer, Songschreiber und Sänger Peter Gutzeit abliefert, weder textlich noch musikalisch. Und ich liege gewiss nicht fehl mit der Annahme, dass es der einen Dame und den drei Herrn auch gar nicht um künstlerische Hochleistungen geht. Das Anliegen der Gruppe Gutzeit ist vielmehr ein abgrundtief erfreulicher Bastard, ein scheinbarer Widerspruch in sich und gewiss auch ein eigenständiges Genre, für das wahrscheinlich nur die Gruppe Gutzeit die Fahne hochhält: Countrymusik mit kritischen Texten.

Ob die gefälligen Klänge mit den stacheligen Texten radiotauglich sind, wage ich zu bezweifeln. Aber sicher bin ich mir, dass ein Lied wie „Hartz IV“ gesungen werden muss. Diese mit unglaublicher politischer Arroganz eingeführten Maßnahmen gegen Menschen, die sowieso schon auf der Schattenseite des Lebens stehen, werden von einer fortgeschritteneren Gesellschaft dereinst gewiss als Zeichen und Konsequenz unseres rücksichtslosen Turbokapitalismus gedeutet. Die Gruppe Gutzeit singt denn auch passend über die Politiker, die mit betroffener Miene Wasser predigen, aber den Wein gleich literweise saufen. Was weiß denn ein Berliner Reichstagsbewohner wirklich von den Sorgen und Nöten der meist unverschuldet zu Langzeitarbeitslosen gewordenen Menschen! Aber wenn in den nächsten Monaten die Arbeitslosenzahlen kräftig steigen werden – warum wohl, möchte ich fragen – und in der Konsequenz dann auch die Zahl der unter Hartz IV-Leidenden, dann könnte es sein, dass dieser steigende Anteil an der Gesellschaft es zunehmend leid sein wird, um die Hartz IV-Almosen zu betteln. Wie singt die Gruppe Gutzeit im Refrain beschwingt: „... Hartz IV, das ist nur Dreck, pack mit an, der Dreck muss weg!“ Dem ist nichts mehr hinzuzufügen. 

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