Persönliche Empfehlung Lied

Reihum gibt eine/r der JurorInnen in dieser Rubrik ihre/seine persönliche Empfehlung für ein Lied ab und begründet diese schriftlich.

DEZ 2010  Michael Laages, Berlin

Georg Breinschmid - Schnucki von Heanois

Zunächst hat ihn die Jazzszene wahrgenommen – immerhin hatte Georg Breinschmid, Mittdreißiger aus Wien, schon sieben Jahre im Vienna Art Orchestra zugebracht; als Bassist. Und die gleiche, prinzipiell dienende Rolle absolvierte er zuvor auch schon in der Bassgruppe der Wiener Philharmoniker – eine illustrere Visitenkarte ist kaum denkbar; jedenfalls nicht in Wien. Was immer Breinschmid aber auch in Angriff nahm, wohin ihn die Phantasie auch trieb – „zu Hause“ blieb er immer auch in einem Genre, dass es so nur in der k.-und-k.-Erbengemeinschaft gibt: Breinschmid liebt das „Wiener Lied“. „Schnucki von Heanois“ ist eins von denen, die sich auf der jüngsten Doppel-CD Brein‘s World finden.

Das Lied ist eine Weltreise – das Ich im „Wiener Lied“ flüchtet hier vor einer Ex-Geliebten, eben vor „Schnucki von Heanois“: erst zum Zigarrettenholen und in geheimnisvolle Hauseingänge, dann per Flugzeug in ferne, fremde Welten, und sogar aufs Dach der Welt zum Yeti. Aber mit Schnucki und ihm ist es wie mit Hase und Igel – „Ick bün all dor“ lacht ihm Schnucki überall schon entgegen, natürlich nicht auf Plattdeutsch, aber ähnlich enervierend und beharrlich; bis die beiden eines schönen Tages, im Alter von 70plus, in der Greisengemeinschaft landen. Vermutlich in Heanois.

Vor allem natürlich und vordergründig wächst die rasante Komik des Liedes aus der Hase-und-Igel-Dramaturgie; wirklich atemberaubend witzig aber wird es erst mit dem schier unermesslichen Möglichkeiten des Reimens im Dialekt. Einmal mehr erweist sich die speziell lokal oder regional bereicherte Alltagssprache jenseits vom Hochdeutsch als Wundertüte – schon „Heanois“ ist ja bekanntlich der Wiener Stadtteil Hernals, und auch sonst greift Breinschmid im Rap-Tempo tief hinein in die Reim-Trickkiste. So schlägt der Fluchtbericht die herrlichsten Kapriolen.

Einst hatten Helmut Qualtinger und André Heller das alte „Wiener Lied“ ja quasi beerdigt: mit „Des Wien, des is a oide Frau“; Anfang der Siebzigerjahre war das, und es war ein demonstrativer Abgesang. Breinschmid belebt den Ton der skurrilen Geschichten, wie sie in der Strophenform vom „Wiener Lied“ immer erzählt wurden – und führt die kleinen Alltagsfabeln mit scharf und „funky“ swingendem Jazz-Bass zielstrebig an ein gar nicht gutes Ende. Das war ja stets typisch am „Wiener Lied“ – es geht nicht gut aus. Auch dieser schwarze Fatalismus findet (neben der musikantischen Klasse) in Georg Breinschmid einen zeitgenössisch-klugen Nachlassverwalter. 

NOV 2010  Eva Kiltz, Berlin

Di Grine Kuzine - Was ist los?

Nanu, was ist das? Zwischen dem titelgebenden Brass-Tune „Everybody"s Child“ mit Kuzinen-Wiedererkennungswert und dem von Sängerin und Akkordeonistin Alexandra Dimitroff mit – ungewohnt aber schön – kindlich-naiver Stimme vorgetragenen Lied „Die Sonne“, lugt mit „Was ist los“ auf dem neuesten Kuzine-Album ein Song hervor, der mit seiner unerbittlichen Gelassenheit den tragischen Gedanken der Entfremdung zweier einst sehr naher Menschen in Musik bettet – und damit aus dem Rahmen fällt.

Natürlich kann man bei einem neuen Album der Grinen Kuzine Veränderung eigentlich erwarten, hat sie doch, vom Klezmer kommend, mit jedem Album neue Klänge aus aller Welt in ihre Musik eingeflochten. Mal sind die Arrangements anders gestrickt, mal ist die Brass-Sektion anders besetzt, mal überwiegen der Balkan und das Jiddische, mal setzen sich Ska und der Jazz der Marching Bands durch. Eines aber war immer konstant: es gab auf jedem Album mindestens einen Song mit deutlich jiddischen Wurzeln und viel tanzbare Brassmusik zur Stimme von Frontfrau Dimitroff.

In „Was ist los“ hat sich nun also auch das verändert. Denn dass Alexandra Dimitroff hier den Gesangspart dem Kuzinen-Schlagzeuger Snorre Schwarz überlässt, dass dieser Song mit solch filigraner Zurückhaltung der beteiligten Musiker daher kommt, dass die Bläsersätze ausgetüftelt und präzise aber nicht überladen sind und neben Anleihen bei europäischen und amerikanischen Brass Traditionen auch typische Jazzsequenzen ihren Platz finden und das alles in einem einzigen Song, das ist neu und es gefällt.

Die Bläsersätze glänzen mit höchster Präzision und sind von Beginn an mit einem markanten Offbeat versehen, dennoch dominieren sie nur streckenweise, sind teils gar zurückhaltend, vom sanften Bass der Tuba gestützt. In der Melodie finden sich noch Anklänge an Osteuropa, die Motive der Bläser könnte man auch auf jüdische Wurzeln zurückführen, dann wieder untermalt Stefan Fräntzel an der Klarinette den die Atmosphäre des Titels bestimmenden Offbeat mit improvisierten Jazzphrasen. Insgesamt haben die Musiker hier aus den verschiedenen Charakteren der Blasinstrumente, des Akkordeons, des Schlagzeugs und – ja – der Triangel ein zurückhaltendes, aber ausgeklügeltes Arrangement entwickelt, das den Bläsern mal erlaubt, die Melodie zu führen, sie mal perkussiv einsetzt, um dem marschierenden Rhythmus einen Hauch von New Orleans zu verpassen. Dem Duktus folgt auch das Schlagzeug mit marschähnlichen rhythmischen Elementen. Besonders gut gefällt die Lyrik der umspielenden Bassklarinettenmotive des ehemals in der Stammbesetzung, heute als Gast spielenden Max Hacker und des Klarinettisten Stefan Fräntzel.

Eigentlich haben wir es hier mit einem Instrumentalsong zu tun, der fast wie für eine Bigband arrangiert ist und den Text nur zur Untermalung benötigt. Dennoch behandelt der Song ein Thema, das sich in Arrangement und Atmosphäre von „Was ist los“ wiederfindet: das Erstaunen darüber wie sich Zwei, die sich einst offenbar näher waren, nach und nach Entfremden. Aufzuwachen und festzustellen, dass einer weiterwandern will, während der andere die Zeit anhalten möchte. Ein nachdenklich-melancholisches Motiv über die Vergänglichkeit menschlicher Beziehungen.

Ein bisschen geht es mir mit diesem Song wie als Teenager mit den Metalbands: ich finde, die mitreißendsten Bands haben schon immer auch die schönsten Balladen geschrieben, wie hier eben auch.

OKT 2010  Peter Eichler, Leipzig

Nessi Tausendschön - Schau in die Nacht

Es gibt Lieder, die unberechtigt ein eher unbeachtetes Dasein führen. Warum sie nicht in den Fokus vieler Chansonliebhaber gelangten, bleibt meist ein Rätsel. Jetzt hat die Dreifach-CD Maurenbrecher für alle ein solches Lied nach dessen Erstveröffentlichung 1989 und einer weiteren auf einer wunderbaren Live-CD 1990 nach zwanzig Jahren ein drittes Mal auf eine kleine Silberscheibe gebannt.

Nessi Tausendschön singt dieses besondere Lied, das die Geschichte einer unerfüllten Liebe erzählt. „„Schau in die Nacht raus““ lässt uns teilhaben an einer Art Romeo-und-Julia-Situation: Er unten auf der Straße, sie oben – vielleicht – hinter der Gardine. Er voll von Emotionen und sie verheiratet. Mitgefühl mit ihm macht sich in uns breit, denn, dass die beiden nicht zueinander finden werden, scheint von Anfang an klar. Sie lebt in bürgerlichen Verhältnissen, er steht allein mit vollgetanktem Auto und seinen Träumen vor dem Haus, das scheint nicht auszureichen, um sie zu ihm zu locken.

„„Schau in die Nacht raus““ ist ein besonders stimmungsvolles Liebeslied, wozu in der Liveaufnahme von 1990 die Begleitung allein mit Manfred Maurenbrecher am Klavier und das Saxophonspiel von Richard Wester beiträgt. In der Neuaufnahme greift Nessi Tausendschön zu ihrem Lieblingssoloinstrument – der singen Säge – und verleiht dem Chanson zusätzliche Dramatik und ein deutlich hörbares Augenzwinkern. Vielleicht ist der Einsatz der singenden Säge aber auch ihr Hinweis darauf, diese Frau – wie auf Varietébühnen durchaus üblich – zu teilen – zwischen dem, der unten auf der Straße voller Sehnsucht und im Bewusstsein der eigenen Unvollkommenheit wartet und dem, der sie sicher hat. Das ist natürlich nur Spekulation und soweit wird die Geschichte auch nicht erzählt.

„„Schau in die Nacht raus““ scheint aber nicht nur einer meiner Lieblingssongs zu sein, nein auch Heiko Werning, der Herausgeber von Maurenbrecher für alle, bekannte sich dazu. Da wären wir dann schon zwei.

SEPT 2010  Ingo Nordhofen, Witten

Felix Meyer - Die Corrida

Zehn Titel von Felix Meyers Debüt Von Engeln und Schweinen“ sind Eigenkompositionen. Einen der beiden Coverversionen empfehle ich den geneigten Hörern. „La Corrida“ ist ein Chanson von Francis Cabrel aus dem Jahre 1994, das Felix Meyer übersetzt hat. Es schildert einen Stierkampf, irgendwo in Andalusien, aus der Sicht des Stieres, von seiner anfänglichen Gewissheit, dass er sich wehren kann bis hin zu der Erkenntnis, dass er besiegt ist. Dazwischen Fantasien von Gegenwehr, immer größere Schmerzen und Erinnerungen an gute Zeiten. Am Ende dann nur noch der Wunsch, dass es bald vorüber sein möge. Und zwischendurch immer wieder die Frage: „Kann man diese Welt ernst nehmen?“. Das Lied endet mit einer spanischen Textpassage, die übersetzt etwa so lautet: „Ja, ja, Mann, Mensch, tanze, tanze! Lass uns weitertanzen und weitere abschlachten, andere Leben, andere Stiere, und weitere abschlachten“.

Spätestens hier toben die Assoziationen nur so durch den Kopf, ob es um politische oder persönliche Geschehnisse geht, bleibt jedem überlassen. Wie jeder gute Song, ist eben auch dieser auf mehreren Ebenen interpretierbar.

Nun ist das so eine Sache mit Coverversionen. In der Regel reichen sie nicht an das Original heran. Die Kunst ist, das Stück zu seinem eigenen zu machen, und das gelingt Felix Meyer gut, obwohl er sich eigentlich nicht allzu weit vom Original entfernt. Mit kräftiger, tiefer und rauer, durch zehn Jahre als Straßenmusiker geschulten Stimme interpretiert er den Song, gibt ihm seinen ureigenen Sound und lässt die Hörer teilhaben an seinen Empfindungen, und das kommt echt und authentisch rüber. Unterstützt wird er dabei souverän und einfühlsam von Benjamin Albrecht (akk, org), Sebastian Brand (bass, e-bass), Niklas Neßelhut (drums, perc), Olaf Niebuhr (git, banjo) und Eric Manouz (git, perc). Ein starkes Chanson, stark interpretiert von einer starken Band. Ich wünsche ihm – und auch den anderen Titel der CD – viele aufmerksame Zuhörer. 

AUG 2010  Mike Kamp, Bad Honnef

Die Bandbreite - Was ist los in diesem Land

Was ist los in diesem Land? Gute Frage – und eine Frage, die wir uns wohl alle und immer häufiger stellen. Was ist los in diesem Land – und nicht nur in diesem Land, aber hier wohnen nun mal wir ebenso wie das Duo Die Bandbreite. Die Jungs stellen weitere Fragen und die sind eigentlich einfach: Warum ist Geld für Bankenrettungsaktionen vorhanden, aber nicht genug für Bildung? Wieso mordet die Bundeswehr in Afghanistan? Wie unabhängig sind die Medien? Wieso steigt das Bruttosozialprodukt, aber auch die Armut in Deutschland? Genau das sollten Künstler tun, Fragen stellen, die Finger in Wunden legen, unbequem sein. Dazu bedarf es keiner geschliffenen Reime, das muss einfach raus. Hier dankenswerterweise mal nicht zur gepickten Gitarre, sondern im synthetischen Bandbreite-Breitwandsound. Für die Antworten, die oft nicht ganz so einfach sind, müssen wir uns alle kümmern.

Apropos: Nur eine Bandbreite-Frage beantwortet sich eigentlich von alleine: Wann die Politiker der Super-Koalition von CDU/SPD/Grüne/FDP endlich mal anfangen, was für uns zu tun? Na??? 

JULI 2010  Dieter Kindl, Kassel

Oli Kehrli - Darwin

Dass König Fußball entthront ist (wie Schobert und Black einst sangen), davon kann derzeit keine Rede sein. Im Gegenteil. Am 11. Juni hat er wieder einmal das Zepter übernommen und bestimmt seitdem den Tagesablauf der Fußballbegeisterten. Das damit einher gehende „Fußballfieber“ wurde allerdings schon vor Monaten entfacht. Seitdem tummeln sich im Einzelhandel allerlei Waren des mehr oder minder täglichen Bedarfs, die mit einem Bezug zu der Meisterschaft den Umsatz steigern sollen. Und die Strategie geht auf. Sehr gut sogar. Selbst die Sammelbild-Tütchen aus meiner Kindheit sind wieder da.

Mit denen beschäftigt sich auch der Berner Liedermacher Oli Kehrli auf seinem Debütalbum We Meitschi Buebe... In dem Lied „Darwin“ erzählt er von der Faszination, den diese Klebebildchen bis heute auf ihn ausüben. Von Sucht ist da die Rede, von Verlangen, gar von Rauschzuständen, den diese Sammelbilder bei ihm auslösen. Und dass trotz hoher Preise und schlechter Bildqualität. Geblieben sind ihm auch Erinnerungen: an das angsteinflößende Gesicht von Paul Gascoigne oder an Andres Escobar, der einst bei den Berner Young Boys, seinem Heimatverein, spielte. Und daran, dass ihm jedes Mal Rummenigge in seiner Sammlung gefehlt hat, er dafür aber andere Spieler mehrfach hatte. Viel Geld hat er ausgegeben für seine Fußball-Alben. Geld, das er vielleicht anderweitig eher gebraucht hätte. Darwin verdankt er es, dass er trotz alledem kein schlechtes Gewissen haben muss. Schließlich sind Männer schon seit Urzeiten Sammler. Und Jäger. „Aber da möcht ig hüt nid i ds Detail gah“ meint er zum Schluss.

Eine schöne Geschichte, die selbst mich fast zum Fußballliebhaber werden lässt. Übrigens: Nur eine von 25 auf seinem Erstlingswerk. Auch denen hört man an, dass Oli Kehrli mit den Liedern von Jakob Stickelberger und Mani Matter groß geworden ist. Geprägt sind seine Chansons von der Liebe zur Heimatstadt Bern, zu seinem Fußballklub sowie zur Frauenwelt und bieten reichlich „Stoff für romantische, leidenschaftliche und manchmal auch provozierende Gedankenspiele“ wie es in der Berner Zeitung hieß. Begleitet wird Oli Kehrli auf We Meitschi Buebe... von Chrigu Fluri an den Percussions und dem Kontrabassisten Tevfik Kuyas, der den Chansons den richtigen Groove verpasst. Die neue Stimme aus Bern ist übrigens nur nebenbei Liedermacher. Tagsüber arbeitet er mit Kindern, nachts als Barkeeper und die Wochenenden widmet er ganz seinem Fußballverein. Und genau jener „Alltag“ dient ihm als Inspirationsquelle für seine Lieder. Für mich ist Oli Kehrli jedenfalls die Neuentdeckung in diesem Jahr.

JUNI 2010  Stephan Rögner, Frankfurt am Main

Absinto Orkestra - Wohin die Reise geht

An Peter Rohlands Landstreicher-Balladen und an seine Villon-Gedichts-Vertonungen erinnert mich das Lied „Wohin die Reise geht“ auf der CD Gadje der nordhessischen Gruppe Absinto Orkestra. Es ist eine beschwingte Melodie, die den Hörer beflügelt. Eigentlich ist es „nur“ eine Urlaubsmelodie, nur so auf der Mandoline gezupft, eine Tonleitermelodie, orientalisch, sehr rhythmisch, wohlklingend und eingängig, irgendwie zum Mitmachen, zum Klatschen oder zum Tanzen animierend, aber aufgeputzt arrangiert und dargeboten mit einem vielseitigen Instrumentarium etlicher Gastmusiker.

Der Text macht nachdenklich, weil sich vielerlei hinein interpretieren lässt, auch als Assoziation dazu, was 1958 Peter Rohland als Tippelbruder mit seinen Kumpanen als Musikern bei der legendären Spielfahrt durchs Moseltal erlebte. Und die Melodie entstand tatsächlich zuerst. Denn als das Absinto Orkestra eine Filmmusik für einen Kurzfilm als Selbstdarstellung suchte, besann sich Stefan Ölke, Kopf der Band, auf seine Komposition, und Bassist Hans Bender bastelte den passenden Text dazu, erzählt eine zigeunerische Musikergeschichte mit Metaphern aus dem Alltag, mit ein wenig Sehnsucht gewürzt und stets voll des sicheren Vertrauens und tröstlich: „Wir schaffen es schon!“

Eine Melodie, gleichsam garniert mit einem Text, der die Weisheit, das hinzunehmen, was nicht mehr zu ändern ist, lapidar umschreibt. So ist eben das Leben. Lebenskünstler wollen sie sein –– auf der Bühne und im wirklichen Leben ––, und sie vermitteln –– zweideutig –– Lebenstüchtigkeit: „Was einmal Wurst wird nie mehr Schwein“.

MAI 2010  Tom Schroeder, Mainz

Stoppok plus Worthy - Hey Maria

Vorweg: die restlichen fünfzehn Stücke des Albums, das der Sänger und Saitenspieler Stefan Stoppok im Duo mit seinem Bassisten Reggie Worthy eingespielt hat, sind keineswegs schlechter als die „Maria“. Es gibt auf der CD Lieder und Strophen, die sich böser und bissiger anhören oder aber zärtlicher; die kritische und politische Statements enthalten oder ironisch, poetisch, utopisch daherkommen. Und einiges klingt einfach nur saukomisch. Also: typisch Stoppok.

Weshalb dann „Hey Maria“ ? Von den Gründen für meine Empfehlung möchte ich wenigstens diese drei nennen:

1) Die Musik. Nach einem kurzen Gitarrenschlag und einem astreinen A-cappella-Intro kommt dieser Zwölftakter gut in Fahrt als „ein Boogie im uptempo-shuffle-groove“, so der Mainzer SWR 1-Bluesredakteur Christian Pfarr. Und dass Stoppok, der Rock`n`Roller unter den einheimischen Liedermachern, einen sehr schönen Blues singt und spielt, ist spätestens seit 1980 bekannt, als seine erste LP (damals noch mit der Stender Band) erschien.

2) Die Story. Uralt und ewig jung, jeder kennt sie: „Hey Maria, mach die Tür auf, mir wird es langsam zu kalt. Maria, mach die Tür auf – und das am besten bald.“ Egal, wie diese nicht ganz symbolfreie und auch nicht ganz hoffnungslose Geschichte ausgeht, sie bleibt realistisch. Wie ja Blues vor allem realistische Unterhaltungsmusik ist – ob lazy oder crazy, ob moody, groovy, funky oder stinkyfingrig. Spannend und entspannend. Aufheller und Absacker.

3) Der Blues mit dem Blues. Bis 1942 sind etwa 10.000 Bluestitel diskografisch erfasst worden, bis 1970 kamen noch mal 15.000 dazu. Und heute, schätzt der Bluesforscher und -publizist Manfred Miller, dürfte es mindestens 100.000 Bluestitel geben. Bisher hat niemand alle Bluestexte klassifiziert. Aber, klar, sind darunter auch melancholische, klagende, selbstmitleidige und traurige. Die traurigste Nummer hierzulande allerdings ist eine Verwechslungsnummer, ist die Gleichsetzung von individuellem oder gesellschaftlichem Befinden mit einer musikalischen Ausdrucksweise, die Gleichsetzung von „den Blues h a b e n “ und „den Blues s p i e l e n / s i n g e n “. Bluesmusik heißt für Manfred Miller „Nicht: Lust am Leiden. Sondern: Lust trotz Leiden“. Also Lust am Leben, let the good times roll!

Zwei ganz frische Beispiele, die auch für die Aktualität des empfohlenen Stoppok-Songs sprechen sollen: „Deutsche Städte und Gemeinden haben den Blues“ – damit hat die ZDF-Moderatorin Silke Petersen (Frontal 21 vom 20.04.2010) vollkommen recht, politisch und sprachlich. Anders ein Moderator im ZDF-Morgenmagazin (20.02.2010), der es im Zusammenhang mit Bluesmusik einfach gespreizt mal so sagt: „Und schon kann es losgehen mit dem g e p f l e g t e n W e l t s c h m e r z.“ Da muss der Moderator irgendetwas verwechselt haben, vielleicht mit einem Vulkan oder Vatikan? Schwere Zeiten würden auf ihn zukommen, sollte der Moderator sich wirklich einmal in ein Blueskonzert verirren und daselbst dann das Übliche erleben: gebeugte, gebrochene Musiker, die sich über die Bühne schleppen zum Heulen und Zähneklappern. Und das Publikum ergeht sich in Wehklagen und Selbstgeißelung. Halt! Dem Moderator kann auch anders und kürzer geholfen werden. Mit einer einzigen Stoppok-Nummer. 2 Minuten 36: „Maria, Maria! Die Chancen für uns sind nicht schlecht – immer noch!“ 

APR 2010  Rainer Hannes, Baden-Baden

Michy Reincke - Jetzt ist schön

Es gibt Lieder, in denen ist das Glas halb voll. In anderen ist es halb leer. Und sie erzählen oft davon, warum das so ist, erzählen von Armut, Dummheit, Gewalt, Angst zu Hause, auf der Straße, bei der Arbeit, in der Gesellschaft, nebenan und auf dem Globus. Notwendige Lieder, weil sie alle letztendlich das „bessere Leben“ einfordern. Und viele werden sicher deswegen auch in die Liederbestenliste gewählt.

In Michy Reinckes Titelsong seines neuen Albums ist das Glas ganz voll: „Jetzt ist schön“. Voller geht nicht, ohne überzulaufen. Wer dies als Weichspülformel eines Positivdenkers aus der Abteilung Schönreden & Reichrechnen nehmen will, kann dies tun, liegt aber völlig daneben. Der Song hat mit Zeit zu tun, die Reincke hat und sich gibt. Zeit, die wir uns offenbar nicht mehr nehmen können, weil sie uns „irgendwie“ abhanden gekommen ist.

„Jetzt ist ...“. Dazu eine kurze, vielleicht bekannte Geschichte: Drei Europäer treffen einen alten Zen-Meister. Sie fragen ihn neugierig: „Sag, wie kommt es, dass du trotz deiner vielen Beschäftigungen immer so gelassen auf uns wirkst?“ Der Zen-Meister hält kurz inne, dann antwortet er bereitwillig: „Wenn ich sitze, dann sitze ich. Wenn ich esse, dann esse ich. Wenn ich stehe, dann stehe ich. Wenn ich gehe, dann gehe ich.“ „Ach so, nein, das machen wir auch. Kannst du uns erklären, was dich so gelassen macht?“ Wieder antwortet der alte Zen-Meister: „Wenn ich sitze, dann sitze ich. Wenn ich esse, dann esse ich. Wenn ich stehe, dann stehe ich. Wenn ich ...“ „Nein“, unterbrechen ihn die Europäer ungeduldig, „das machen wir auch, kannst du uns nicht das Geheimnis deiner Gelassenheit verraten?“ „Macht Ihr das wirklich auch?" fragt der alte Zen-Meister. „Ist es nicht eher so: Wenn Ihr sitzt, dann steht Ihr schon. Wenn Ihr steht, dann lauft Ihr schon. Wenn Ihr lauft, dann seid Ihr schon am Ziel ...?“

Jetzt ist sitzen. Jetzt ist laufen. „Jetzt ist schön. Lass dich treiben“, singt Michy Reincke weiter, „wir alle bauen nur Sandburgen vor die Flut. Wie soll das gehen zu bleiben?“

Melancholisch ist das, sicher, aber da ist kein Pathos, keine Süße, kein falscher Ton. Das überzeugt und mir fällt ein Satz ein, den einer vor rund 200 Jahren in sein Werk geschrieben hat – es ging um eine ziemlich große, grundsätzliche Sache: „Zum Augenblicke dürft‘ ich sagen: Verweile doch, du bist so schön!“ („Wie soll das gehen zu bleiben?“) Dass sich heute ein deutscher Singer/Songwriter, der meiner Meinung nach leider immer etwas unterschätzt wurde, sich mit dem vertrackten Ding des Augenblicks befasst und dazu eine ehrliche, nämlich seine Antwort hat, tut gut zu hören. Ich halte auch Lieder, in denen das Glas randvoll ist, für notwendig. 

MÄRZ 2010  Hans Reul, Eupen

Wortfront - Freilandherz

Manchmal fragt man sich, warum gewisse Künstler immer noch „nur“ ein Geheimtipp sind, obwohl die Qualität ihrer Musik und ihrer Texte absolut überzeugen und die Bühnenshow eine selten erlebte unmittelbare Präsenz vermitteln. Da müsste das verehrte Publikum doch direkt anspringen und die Kollegen vom Rundfunk die Lieder in die Heavy Rotation aufnehmen. Aber dem ist nicht so bei Wortfront, noch nicht.

Sandra Kreisler und Roger Stein, denn diese beiden Künstler bilden das gelichnamige Duo, sind seit einigen Jahren beruflich und privat ein Paar. Sandra, die Tochter von Topsy Küppers und Georg Kreisler (muss eigentlich immer wieder daran erinnert werden?, sie hat sich mittlerweile selber einen Namen gemacht), die Diseuse, die Stimme, die Darstellerin, die es versteht Liedern nicht nur auf der Bühne sondern auch auf CD Körper zu verleihen; Roger Stein, Doktor der Germanistik und ausgebildeter Konzertpianist (sicher nicht die schlechtesten Voraussetzungen), der Komponist, Autor und Arrangeur, dem die Melodien und Ideen nur so zuzufliegen scheinen. Obwohl sicher auch knallharte Arbeit dahinter steckt, die man aber nicht spüren soll und tatsächlich nicht spürt.

Wortfront-Lieder sind wie kleine Inseln, Geschichten voller Poesie, manchmal mit Pathos aber ohne Kitsch. So auch auf dem neuen Album Freilandherz, dessen Titelsong meine Empfehlung des Monats ist.

Wer hat es nicht, dieses Freilandherz, das stets auf der Suche ist, nach einem Zuhause. Roger Stein beschreibt auf einnehmende Art dieses Suchen, dieses desillusionierte Warten auf das Ankommen. Aber ist es nicht spannender, weiter als Tourist unterwegs zu sein, ohne sich selbst dabei zu verlieren. Musikalisch setzt er dies in poppige Klänge, die fast ein wenig zu leichtgewichtig erscheinen könnten, es aber nicht sind.

Sandra Kreislers Stimme ist ideal für diese Geschichte und diese Bilder, die in ihrer Griffigkeit berühren:

Nach jedem Lachen fallen Späne, jede Fülle bringt Verzicht
Worte wechseln die Besitzer so wie Träume ihr Gewicht
Und obwohl in meinem Tagebuch schon ein paar Seiten fehl"n
Trag ich Bilder in der Tasche, die die Tage weiter zähl"n.

Vielleicht erreicht Feilandherz die Zuhörer. Wortfront ist es zu wünschen.

FEB 2010  Ulrike Zöller, Jettenbach

Ernst Molden - Heanoisa Oma

Laute Anklagen, phantasievoll-verworrene Wortspielereien oder spektakuläre Arrangements stehen ihm nicht, dem Wiener Sänger Ernst Molden. Auch auf seiner kürzlich, mit Willi Resetarits, Walter Soyka und Hannes Wirth erschienen CD Ohne di überwiegen unspektakuläre Lieder in Wiener Dialektpoesie. Ein Meisterstück des lyrischen und musikalischen Understatements, „Heanoisa Oma“ ist die Liebeserklärung an die verstorbene Großmutter aus dem 17. Wiener Bezirk Hernals, in der das Leben einer einfachen, aber praktisch veranlagten Frau nachgezeichnet wird. Nebenbei wird ein Stück Geschichte erzählt: Wie „da hitla, des oaschloch“ den Opa zuerst von sich eingenommen hat, der damals junge Mann dann aber, acht Jahre danach, um Jahre gealtert, mit Tuberkulose, aber kuriert von der Hitlersucht, nach Hause kam.

Zwischen den Versen, die die Oma als schöne Frau oder als verwöhnende Großmutter beschreiben, nimmt man den Geruch der Fünfzigerjahre-Wohnküchen wahr, hat die Blümchentapeten vor dem inneren Auge, sieht die Oma vor sich, wie sie mit Kochlöffel und Kittelschürze Lebensweisheiten und Heanoisa Mantras verbreitet. Auf deren Autorenschaft sie besteht und das nötigenfalls auch handfest verteidigt. Man versteht es, wenn der Enkel nach dem Tod der Oma kein Interesse am materiellen Erbe hat – „drum nimm da die kohle des aundare glumpat aa wäu des duad man et wee, nua loss am regal des büd vo da oma schdee“ – und man ist nahe dran, sich selbst in die „heanoisa oma“ zu verlieben. Zumindest aber in das ihr gewidmete Lied von Ernst Molden. 

JAN 2010  Karl-Heinz Schmieding, Saarbrücken

Kannemann: Das Ghetto ohne Zukunft

Vor fast genau 50 Jahren war die Schlagersängerin Lolita Monate lang in den Hitparaden mit der Fernweh-Schnulze „Seemann, deine Heimat ist das Meer“, deren Anfangszeile „Seemann, laß das Träumen“ lautete. Die gleiche Zeile und weitere verbale Versatzstücke aus dem Hit von 1960 verwendet Nils Kannemann, Straßenmusiker aus Hamburg, wenn er das Klischee des sentimentalen Seemannsschlagers mit der wenig romantischen Realität konfrontiert. Und das ist typisch für einen wichtigen Teil der Lieder seiner neuen CD: hier ist ein „Hamburger Jung“, der sich - bei aller Liebe zu Seefahrts- und Hafen-Romantik-Metaphern in seinen schönen und zeitgemäßen Liebesliedern - den nüchtern-kritischen Blick auf die Schattenseiten der Gesellschaft, insbesondere moderner Großstädte und speziell seiner Heimatstadt bewahrt hat.

Der autobiographische Song im Rockabilly-Sound „Ghetto ohne Zukunft“ - er bekommt durch den Hamburger Tonfall zusätzliche Authentizität - ist die schonungslose Beschreibung eines Großstadtviertels, das Kommunalpolitiker gern als „sozialen Brennpunkt“ bezeichnen. „Das Ghetto ohne Zukunft ..., das meine Zukunft war ...“, so beschreibt Kannemann rückschauend seine Kindheit und Jugend in der Plattenbau-Siedlung, die ihm bei aller äußeren Trostlosigkeit aber auch individuelle Glücksmomente bescherte („ .. jeder Sperrmüllhaufen ein Paradies ...“).

Auf der anderen Seite die Erinnerung an die bedrückenden und bedrohlichen Bilder und Szenen aus dem Alltag dieses Viertels: der kahlrasierte Neonazi mit erhobenem rechten Arm und mit dem Bier in der Linken; die alkoholkranke Frau, die, vom Fusel-Konsum halb bewußtlos, ins Zimmer ihrer Tochter hineinfällt und damit ungewollt erste zarte Annäherungsversuche zwischen Tochter und Freund zunichte macht - Bilder, die wie eine groteske Film-Sequenz wirken. „Das Ghetto ohne Zukunft ist ein Teil von meinem Leben“ singt Kannemann am Schluß des Liedes. Nach langer Zeit hat er dem Viertel wieder einen Besuch abgestattet und mußte dabei feststellen, daß sich kaum etwas geändert hat. Sein Fazit: „Es ist schon gut zu wissen, wo man wirklich herkommt, damit man nie mehr, wirklich nie mehr zurückgeht.“

Kannemann hat Text und Melodie dieses Liedes, wie bei allen anderen Songs der CD, selbst geschrieben und fast alle Instrumente selbst eingespielt. Text, Musik und Interpretation bilden, schnörkellos und direkt, eine ausdrucksstarke künstlerische Einheit. Das Lied zeigt, genau wie einige andere, thematisch ähnliche Songs dieser CD, daß der exzellente Musiker und Liebeslieder-Macher mit dem typischen Hamburger Flair zugleich auch ein überzeugender gesellschaftspolitisch engagierter Singer-Songwriter ist. In einem Presse-text habe ich gelesen: „Kannemann ist kein Leichtmatrose“. Eine schöne und treffende Formulierung. 

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