Persönliche Empfehlung Lied

Reihum gibt eine/r der JurorInnen in dieser Rubrik ihre/seine persönliche Empfehlung für ein Lied ab und begründet diese schriftlich.

DEZ 2018  Hans Jacobshagen, Köln

Felix Meyer, Max Prosa, Fayzen & Sarah Lesch: Europa

Drei junge Liedermacher und eine Liedermacherin haben sich zusammengetan, um gemeinsam ein Lied über Europa zu singen, Europa wie es war und wie es leider sein wird. Dabei sind sie stilistisch recht unterschiedlich und haben die Unterschiedlichkeit in ihrem gemeinsamen Lied bewahrt. Und sie zeigen damit deutlich, dass man auch etwas gemeinsam tun kann ohne seine eigene Identität aufzugeben.

In dem Lied geht es um das Mädchen Europa, dass der griechischen Sage nach von einem Stier überwältigt und entführt wurde. Doch Europa lernte die Bestie lieben. Sie bekam das Land, den Wind und ein Haus. „Und nun sag mir wie fühlt sich das an, wenn einem so viel Blut durch die Finger rann, wenn die Ohnmacht die Gewalt nicht beim Namen nennen kann? ...“ singt Felix Meyer in der ersten Strophe. Und Max Prosa fährt fort mit einer Beschreibung von Chaos und Untergang. Europa steuerte das Schiff durch alle diese Untiefen, dass Fayzen singen kann: „Ich bin aufgewachsen in einem reichen Land, in dem sich jeder alles leisten kann, bliebe er nur bei Verstand“. Aber diese Möglichkeit macht die Menschen gierig, so dass Sarah Lesch in der letzten Strophe nur resümieren kann: „Die Früchte des Reichtums fielen nicht weit vom Stamm und zogen gegen das Volk vor Gericht. Bald hatte sie uns alles abgeschwatzt, verhökert und aberkannt, dabei hattest Du für dein Glück nie mehr benötigt als das Licht und die Luft und ein bisschen Land“.

Die poetischen Bilder dieses Liedes setzen sich im Kopf fest, auch wenn die Beschreibung bruchstückhaft ist, Fragen offen lässt. Unsere eigenen Widersprüche werden offen-kundig. Auch wir ertappen uns dabei, dass wir manchmal unsere Gier nicht zähmen können. Ich deute dieses Lied als einen Aufruf zum Widerstand gegen grenzenlosen Konsum und zum bewussten Umgang mit den natürlichen Ressourcen, die uns zur Verfügung stehen. Das ist vielleicht keine neue Botschaft, aber sie ist neu erzählt und kann nicht oft genug wiederholt werden. Und so denken wir doch am besten alle mal darüber nach, was unser Konsumverhalten mit Rüstungsexporten, Dieselskandal und Hambacher Wald zu tun hat.

Das Lied Europa von Felix Meyer, Max Prosa, Fayzen und Sarah Lesch erschüttert. So will ich diese Empfehlung mit einem Zitat von Peter Rühmkorf enden lassen: „Bleib erschütterbar und widersteh“.


Weitere Informationen:
www.felixmeyer.eu
www.maxprosa.de
www.fayzen.de
www.sarahlesch.de

Video: https://www.youtube.com/watch?v=QHQGTQiS1vU

NOV 2018  Dieter Kindl, Kassel

Sleepwalker's Station: Unterwegs

Ich geb"s ungern zu - aber fast wäre das Album »Lorca« von Sleepwalker"s Station von mir unentdeckt geblieben. Und das nur, weil mein persönlicher Fokus eher in Richtung deutschsprachiges Lied ausgerichtet ist. Ein erster, flüchtiger Blick auf die Titelliste beförderte das Werk zunächst einmal auf den Stapel mit Weltmusik-CDs. Erst beim Anhören stellte ich meinen Fehler fest.

Allerdings sind nur zwei der insgesamt 14 Titel dem deutschsprachigen Raum zuzuordnen. Der Rest kommt in verschiedenen Sprachen (Englisch, Französisch, Italienisch und Spanisch) sowie in unterschiedlichen Dialekten (Andalusisch, Katalanisch und Venezianisch) daher. Das liegt vor allem in der Herkunft der über 20 beteiligten Musikerinnen und Musiker begründet, die aus ganz Europa kommen. Auch musikalisch ist diese Vielfalt zu spüren. Da trifft Tango auf Flamenco und Chanson, Walzer mischt sich mit Reggae und HipHop mit Folkklängen.

Eher klassisch ist »Unterwegs« gehalten. In bester Liedermachermanier ist zunächst nur eine Gitarre zu hören, dann setzt zweistimmiger Gesang ein. Im Verlauf des Stückes kommen noch weitere Klangfarben hinzu - Slide-Gitarre, Klarinette, Akkordeon, Kontrabass, Percussion und Schlagzeug steigern die Dynamik des Liedes immer mehr, das zum Ende hin in einem vielstimmigen Chorgesang mündet. Und obwohl der Text eher nachdenklich ist, klingt das Ganze wunderbar harmonisch und hinterlässt eine positve Stimmung. Vielleicht auch wegen des bayerischen Dialektes, in dem hier gesungen wird.

Für mich ist »Lorca« von Sleepwalker"s Station die Entdeckung des Jahres. Es ist dem Musikerkollektiv gelungen, die Vielfalt europäischer Musik auf diesem Album einzufangen und die verschiedenen Stile trotz ihrer Unterschiedlichkeit zu einem melodischem Ganzen zu formen. Hut ab!

 Weitere Informationen:
www.sleepwalkersstation.com

OKT 2018  Michael Laages, Hannover

Alexander Scheer und Band: Trauriges Lied vom sonst immer lachenden Flugzeug

Alexander Scheer singt im Kino Lieder von Gerhard Gundermann – auch »Trauriges Lied vom sonst immer lachenden Flugzeug«.

Das Ende vor Augen
Das kürzeste Lied auf der CD mit der Musik zum womöglich wichtigsten Film des Jahres aus heimischer Produktion hat den längsten Titel – weil die ganze Welt, von der Gerhard Gundermann sang, darin unterkommen muss. Denn das „sonst immer lachende Flugzeug“, von dem da die Rede ist im Lied, ist natürlich das fest verschlossene Ländchen DDR, zu dessen kulturellem Erbe dieser einzigartige Chansonnier für alle Zeiten gehört – „Fröhlich sein und singen“ war ja dort eine der auch gesungenen Parolen, die natürlich nicht nur “singen“, sondern auch “siegen“ meinte und so die immerwährende Zukunftsfähigkeit der hier praktizierten Zwergen-Version des Sozialismus beschwor. Das „traurige Flugzeug“ aber, das nicht weiß, wo es landen soll, „wenn der Tank leer ist“ (und darum sicherlich abstürzen wird) – das ist nicht nur das Land, das ist der Sänger selbst; deutlich markiert ist so die Aussichtslosigkeit der Hoffnung auf Besserung markiert.

Denn selbst jetzt, wo der Ich-Erzähler nochmal „abheben“ konnte (oder musste) im Morgengrauen, also im Augenblick des Endes der DDR-Geschichte und dem eben nicht wirklich möglichen Ankommen im neuen, erweiterten Land, ist erschreckenderweise überhaupt keine Landebahn mehr in Sicht rund um die bewohnte Welt – das kleine Lied erzählt in (wie immer bei Gundermann) sehr poetischer Engführung vom Ende der Träume. Und letztlich auch vom Sterben ohne Erlösung – Gundermann, von dessen Verstrickungen innerhalb des klaustrophobischen DDR-Systems Andreas Dresen biographischer Film ja gerade erzählt, war bei aller manchmal nahezu hippiehaft überschwänglichen Lust und Zuversicht im Privaten vor allem der Untergangsprophet des kleinen Landes, von dessen Wurzeln er zehrte, musikerlebenslang. Seine Lieder sind ein Schatz ohnegleichen; und im aktuellen Kinofilm kommt ihm der Schauspieler Alexander Scheer, ehedem einer der wichtigsten Protagonisten an Frank Castorfs alter Berliner Volksbühne, verblüffend nahe. Die Aneignung im Westen, etwa durch den Musiker und Theatermacher Heiner Kondschak (der Gundermann zutiefst verehrt), blieb demgegenüber stets schwierig und letztlich fremd.

Im kleinen, kurzen Lied lauert also die finstre, finale Vision vom Ende der Geschichten wie der Geschichte: „Das traurige Lied vom sonst immer lachenden Flugzeug“ ist ein großes Stück deutscher Lieder-Literatur.

 

Weitere Informationen:
www.gundermann-derfilm.de
www.inka-stelljes.de/index.php/dir/actors/d/1/s/m/a/a8_alexander_scheer.html

SEPT 2018  Barbara Preusler, Reinach B/L

Florian Schneider mit Roman Bislin & Adam Taubitz: Lisette des Toilettes

Bald steht er wieder auf den grossen Musical-Bühnen mit »Knie - das Circusmusical«. Doch die kleineren Bühnen mit dem direkten Kontakt zum Publikum sind für den Sänger und Schauspieler Florian Schneider weiterhin ein wichtiger Teil seines künstlerischen Schaffens. Seine Lieder gehen ans Herz. Sie erzählen Geschichten von damals und heute. So ist das neue Album »Schangsongs 3« bereits das Dritte seiner Serie. Er nennt seine Figuren schrullig, speziell und bodenständig. Bodenständig und herzlich sind auch die Menschen hier in der Region und sie mögen ihren "Flo" und Florian mag sie und ihr Leben.

Florian Schneider pflegt die Oberbaselbieter Mundart. Musikalische Mitstreiter sind Roman Bislin am Keyboard und der bereits von Schangsongs 1 und 2 bekannte Adam Taubitz an der Violine. Der Baselbieter Dialekt kann sehr romantisch und mythisch daher kommen, oder aber auch sehr kräftig und direkt. Bei Florian hören sich noch die gröbsten Texte poetisch an. Und so ist ihm auch diese neue Scheibe sehr gelungen. Musikalisch finde ich Elemente aus der Folkmusik, dem Country, dem Irischen wieder – und trotzdem es bleibt heutige Baselbieter Volksmusik. Vor allem zwei Frauen-Lieder haben mich sehr beeindruckt. Ich konnte mich zwischen den zwei Liedern nur schwer entscheiden. Wunderschön der Titel »Schöchli Mache«, über das traurige Leben einer Arbeiterin, welche in vergangenen Zeiten Posamenten fertigte (Titel 13). Absolut eindrücklich ist aber Schneiders heutiges Lied über die bekiffte »Lisette des Toilettes« (Titel 2) in ihrem schäbigen Etablissement. Das Lied trifft hundertprozentig und weckt in mir präzise Bilder. Die Sprache zeichnet ungefiltert Lisettes harte Realität. Die Gitarre ist markant, aber nicht überzeichnet, weitere Instrumente unterstreichen die Geschichte der Madame Toilette, dezent und perfekt. Florian Schneider setzt seine Stimme bewusst und mit scheinbarer Leichtigkeit ein. So wunderbar dahingeworfen, kommt mir die Ballade von 6:06 nicht einmal lang vor. Die Ich-Form ist spannend bis zum Schluss, kann mir doch Lisette auch mal so richtig die Meinung sagen.

Lisette ist eine Frau die schon manches gesehen hat. Sie verteidigt ihre Ehre und ihren Platz in der Gesellschaft. Sie schwingt eine grosse Lippe, kifft, praktiziert Überlebenskunst. Müde und einsam ist sie am Schluss und so klingt das Lied über ein hartes Arbeitsleben langsam aus – und mir eindrücklich nach.

Ein gelungenes Werk.

Leider wird meine Übersetzung der Poesie des Originals nicht gerecht.

Me seit mer d Lisette vo de Toilette
me seit au, I syg nit ganz schlau
müesst gar nit blöd gaffe, s muess jedes g schaffe
und I bin e Toilettenfrau
Das macht mi nit hässig, bi halt echlei gspässig,
bi schliesslig vo Reigetschwil
s dunkt mi in der Stadt halt zum schaffe no glatt
do hesch ämmel nie langi Will

E Chüttelschurz s Goschtüm und Javel s Parfüm
Parfüm und de Abörter sy mi Revier,
öbb Maa oder Frau, s git jedem genau
fünf Zeedeli Schissipapier.

Wenn d gohsch,
sigsch e Schätzli und leisch e paar Bätzli
uf s Tällerli bim Stägeufgang
und leg mer no zwei Zigerettli derzue
will d Nacht isch no jung und no lang

No dankt der d Lisette
d Lisette Madame Toilette

I kenn alli Schnalle mit rote Chralle
wo schnäll wei e Fädeli cho neeh,
die roti Georgette, die schenkt dr Lisette
mäengisch e Briefli vo reinschtem Schnee,
So lot sis lo läbe,s git jo süscht nüt vergäbets
und guete Schnee isch rar,
e Näsli voll Puder, mir hilfts geg ne Schnuuder
und I fühl mi wie d Queen vom Pissoir.

Grad wier d Sniffer do kenn I au d Kiffer
ummen öppis an dene isch rot,
hei Auge wie dätschti Sichrige
und süscht si sie bleich wie der Tod.
Jetz lömmers mit Bolle lo rocken und rolle,
die schönschte Stumpe dreih I,
de grüeni Marokker, de macht mi so locker
so wien I halt bi, vom Hocker,

Denn freut sich d Lisette,
d Lisette Madame des Toilettes

Bi mir isch Ornig und Aastand muess si
und I lueg au uf Suuberkeit
und chunnt mer ein fräch, denn lert er mi kenne,
de himmeltruurig Cheib:

Potzheilands stärnsföifi jetz bisch an der lätze,
du Schuuderbüebli chunnsch mer grad rächt,
ass verreisisch jä herrgotts potzdunner,
bevor der d Lisette d Nase bricht.

Au besoffeni Manne, hau Iso in d Pfanne
je mei du, wirkt denn de Toon
und au säuligi Chätzli mit geschorene Gläzli
si brav wie zur Konfirmation,-

Ja so schimpft d Lisette,
d Lisette Madame Toilettes

Je spööter denn d Stunde,
desto voller si d Chunde,
denn schiffe die no umso mehr,
was will me no säge,am Tisch bi der Stäge
blibt s Tällerli ämmel nie leer.

Isch d Nacht denn bald umme
und s Trinkgäld het gstumme,
denn bschliess I my Lädeli ab,
e cheibe Schübel voll Ghüder im Chübel,
putz d Brülle mit Javelwasser ab

Mit müede Bei,
wo nümme wei
und no goht au d Lisette hei.

Man nennt mich die Lisette von der Toilette
man sagt auch, ich bin nicht ganz schlau
schaut nicht blöd, irgendwas muss jeder arbeiten
und ich bin Toilettenfrau.
Bin nicht bös, höchstens ein wenig komisch,
komme schliesslich aus Reigoldwil,
in der Stadt arbeiten, das ist noch super,
da wird es nie langweilig.

Eine Kittelschürze ist die Kleidung, Desinfektion
und die Klos sind mein Reich,
Männer und Frauen bekommen alle die Gleichen
fünf Teile Toilettenpapier.

Wenn Du gehst,
sei ein Schatz und lege etwas Kleingeld
auf den Teller an der Treppe
und noch zwei Zigaretten dazu
denn es ist noch früh und die Nacht wird lang

Dann dankt Dir die Lisette
Lisette – Madame Toilette

Ich kenn alle Dirnen mit den roten Nägeln
die sich schnell eine „Linie“ rein ziehen,
die rote Georgette, schenkt mir
manchmal eine Tüte reinsten Schnee,
so lässt es sich leben, gibt ja nix umsonst
und reiner Schnee ist rar,
gepuderte Nase hilft gegen den Rotz
Und ich fühl mich wie eine Königin der Klos.

Ich kenne die Sniffer und die Kiffer
etwas an ihnen schaut rot aus,
haben Augen wie durchgeknallte Sicherungen
und sind bleich wie der Tod.
mit dem „Stoff“ lassen wir es rocken und rollen,
ich dreh die besten Joints,
der grüne Marokkaner holt mich locker,
so wie ich halt bin, vom Hocker.

Dann freut sich die Lisette,
Lisette – Madame der Toiletten

Bei mir herrscht Ordnung und Anstand muss sein
und ich schaue auf Sauberkeit
kommt einer frech, dann lernt er mich kennen,
der blöde Kerl:

Heilanddonner, da bist Du an die Falsche geraten,
du Saubub kommst mir gerade recht, jetz mach,
mach das Du wegkommst, zum Donnerwetter,
bevor Lisette dir deine Nase bricht.

Auch besoffene Kerle, hau ich so in die Pfanne
Dieser Tonfall wirkt
und auch die Glatzköpfe
sind brav wie zur Konfirmation,-

Ja so wettert die Lisette,
Lisette – Madame der Toiletten

Je später die Stunde,
desto besoffener die Gäste,
dann pinkeln sie umso mehr,
was soll man sagen zum Tisch an der Treppe
kommt immer Geld auf den Teller.

Ist die Nacht bald zu Ende
und das Trinkgeld stimmt,
dann schliesse ich meinen Laden,
mit viel Abfall im Eimer,
desinfiziere die Klos

Mit müden Beinen,
die nicht mehr wollen
geht endlich die Lisette nach Hause.

Weitere Informationen:
www.florian-schneider.ch

AUG 2018  Alfred Hallauer, Bern

töericht: falsche propheten

Zwei Musiker mit zwei Stimmen und vielen Instrumenten, das ist die Band töericht, welche immer noch auf der Suche nach Mitmusikern ist. Seit dem Jahre 2013 sind sie an dem Projekt und nun kam ihr erstes Album. Sehr viel ist auf ihrer Homepage nicht zu erfahren, das macht eigentlich nichts, denn hier geht es ja um ein Lied und das kann man sich anhören. töericht spielt ihre Lieder zwischen Folk, Pop, Rock und Rap, eher sehr zügige Songs mit tollen Rhythmen.

Das Lied, das ich heute empfehle ist mehrheitlich ein Rap, also Sprechgesang, musikalisch aber nicht dem HipHop zuzuordnen. Ich las diese Band und dieses Lied aus, da ich von der ersten Sekunde hinhören, begeistert war, und die Band wirklich Lieder macht, welche einen Bezug zur Gesellschaft haben. Sie reden Klartext und gerade heraus, aber das doch in einer Art Poesie, welche nicht pragmatisch ist. Im Lied »Falsche Propheten« klagen sie Menschen an, welche wir alle kennen und genau so wütend auf sie sind, wie töericht. Wir hören jeden Tag über sie im Fernsehen, Radio und lesen in den Zeitungen und Online Medien. Sie unterstellen ihnen, dass ihr Mitleid mit den Mitmenschen geheuchelt ist, dass sie alles Geld der Welt haben und noch ein Taschengeld dazu und uns weiterhin belügen. Ich sage hier unterstellen, denn diese Menschen streiten das ja alles ab. Der Text ist nicht auf Sparten, oder Nationen getrimmt. töericht lassen hier ihre Wut heraus, denn etwas anderes bleibt einem gar nicht übrig und gerade darum ist dieses Lied so wichtig.

 

Weitere Informationen:
www.toeericht.de

JULI 2018  Barbara Preusler, Reinach B/L

Pigor & Eichhorn: Brecht haben

Ich gebe gern zu, das ich für freche Texte immer zu begeistern bin. Bei Pigor & Eichhorn finde ich jede Menge solcher Lieder, brachial genial, im klassischen Kabarettstil. Die Texte sind schräg und spiegeln mitten in die Gesellschaftskultur. Ihre Texte voller Anarchie überraschen.

Es fällt mir sehr schwer, mich für nur ein einziges Lied als Empfehlung zu entscheiden. Nicht umsonst sind Pigor & Eichhorn bereits heute die Grandseineurs der deutschen Kleinkunstszene. Die Preise sprechen für sich, Deutscher Kleinkunstpreis, Deutscher Chansonpreis, Österreichischer Kabarettpreis, Bayerischer Kabarettpreis und jetzt der Salzburger Stier 2018.

»Brecht haben« empfehle ich mit grosser Freude. Denn dieses Brecht-Thema habe ich so noch nie in Liedform gehört.

Es geht um die Inszenierungen der Bühnenwerke am Beispiel von Bertolt Brecht. Im Herbst 2017 inszeniert Starregisseur Dani Levy »Die Dreigroschenoper« in Basel. Den Text darf er jedoch nicht verändern, weder kürzen noch ergänzen. Der Text muss Wort für Wort originalgetreu wiedergegeben werden. Somit ist einem Regisseur eine "freie" Inszenierung teilweise verwehrt. Dieser "Urheberschutz" bei Bertolt Brecht dauert noch bis 2027.

Diesen Sachverhalt bringt »Brecht haben« auf den Punkt. Witzig, frech, überraschend. Geistreich wählen Pigor & Eichhorn die Worte. Die Klaviermusik steigert sich zum satirischen Gewitter. Die gewieften Musikkabarettisten stellen unverschämt wohltuende Fragen. Sie provozieren liebevoll die Theaterwelt und kommentieren lustvoll den Zeitgeist, oder besser gesagt, den Theatergeist.

Musikalischund textlich ist »Brecht haben« beste Komik.

Es ist ein ururalter Theaterkonflikt
Man muss entscheiden, wie eine Inszenierung tickt
Hält man einem Werk die Treue
Oder setzt man radikal auf das Neue?.

Wie kann man heute mit den alten Meistern
Die Menschen überhaupt noch begeistern?
Soll man den Willen des Autoren achten
Oder genussvoll die alten Meister schlachten?.

Was die Nachgebor´nen sehen und hören
Die Entscheidung liegt bei den Regisseuren
In jeder neuen Lage neu nachzudenken Ist ihr Job.
Sie sollen krank sein und kränken!.

Sie solln verdammt noch mal ins Risiko gehn
Und uns beibiegen, wie sie die Verhältnisse sehn
Es sind nur noch zwölf Jahre, dann ist es soweit
Dann kommt das Ende der finsteren Zeit.

Am 1.1. 27 ist der Brecht endlich frei
Dann ist Schluss mit der ewigen Brechthaberei
Dann werden alle den Meister inszenieren
Und den Brecht regelrecht massakrieren
Dann ist Schluss mit ihren 70 Jahren Urheberrecht
Dann inszenieren wir den Brecht richtig schlecht.

Am 1.1. 27 ist der Brecht endlich frei
Dann ist die Tyrannei der Brecht"schen Erben vorbei
Und auch der Suhrkamp kann niemanden mehr zwingen
Den Baal nur noch original zu bringen
Nach 70 Jahren Tribut
Wird der Brecht endlich öffentliches Gut.

Um Himmels Willen nichts gegen Tantiemen
Es ist in Ordnung dass Autoren etwas nehmen
Auch Verwandten und beteiligten Dritten
Die unter dem Autoren litten.

Gebührt nach dessen Tod ein Schmerzensgeld
So hat sein Werk auch noch Bedeutung für die Nachwelt
Doch wenn sich Erben als Verhinderer begreifen
Und sich auf ihre Sicht der Dinge versteifen.

Wenn ein Nachlassverwalter nichts nachlässt
Wenn ein Nachgeborener die anderen erpresst
Dann ist das uncool Leute, das ist echt nicht Okee
Los, setzt die Erben von B.B. ins CC.

Am 1.1. 27 ist der Brecht endlich frei
Dann ist Schluss mit der ewigen Brechthaberei
Dann darf sich jeder, der will bei dem bedienen
Der sich bediente bei seinen Konkubinen
Dann geht es nicht mehr darum Recht zu brechen
Dann heisst es fleddern und somit Brecht zu rächen.


Fazit: Genau so geht geistreiches Musikkabarett.

 

Weitere Informationen:
www.pigor.de

JUNI 2018  Ingo Nordhofen, Witten

Reinhard Mey: Sei wachsam!

Die persönliche Empfehlung wird gern genutzt, um jungen, noch nicht arrivierten Künstlern, die dennoch schon gute Qualität liefern, einen kleinen Push zu geben. Das ist gut und richtig so, und dennoch empfehle ich heute ein Lied von einem Mann, der einer der ganz Großen im Bereich Liedermacher in Deutschland ist.

1996 bekam Reinhard Mey den Liederpreis (damals noch vom SWF/SWR ausgelobt) für sein Lied »Nein, meine Söhne geb" ich nicht«, vom Album »Zwischen Zürich und zu Haus«. Ausschlaggebend für die damalige Wahl war nicht nur der Song an sich, sondern auch die Ansage, die Mey zu dem Lied brachte. Darin äußerte er sich sehr deutlich und natürlich kritisch zu den damals bestehenden politischen Verhältnissen in der Bundesrepublik. Es ging um den wachsenden Drang der Politiker, Deutschland und vor allem seine Industrie wieder ins internationale Kriegsgeschäft einzubinden, was ja heutzutage schon ein gewohntes Bild ist. Damals trieb die Regierung der Kohlära (klingt wie Cholera, eine bösartige Krankheit) diese Bestrebungen mit großer Vehemenz voran, und das Bundesverfassungsgericht billigte die Pläne letztlich. Dies alles geschah, lange bevor George W. Bush im Jahre 2001 den sogenannten "Krieg gegen den Terror" ausrief. So unverblümt und direkt hatte zu jener Zeit kein anderer seine Abscheu gegen das Treiben der Bunderegierung ausgedrückt. Nun sind zweiundzwanzig Jahre ins Land gegangen, und die Folgen erleben wir täglich.

In dem Song »Sei wachsam!« mahnt uns Mey mit Blick auf die heutige politische Weltlage, nicht auf die Politiker(innen) hereinzufallen, die uns mit wohlklingenden Worten von der Notwendigkeit all dessen zu überzeugen versuchen, was letztlich nur ihren eigenen Interessen und noch viel mehr denen der Industrie dient. Ein ewig wiederkehrendes Argument ist ja, dass es der Wirtschaft gut gehen muss, damit es der Bevölkerung gut geht. Das ist nicht falsch, die Frage ist nur, womit sich die Industrie vornehmlich befasst, und da steht z.B. eine Weiterentwicklung von Umwelttechnologien weit hinter der Waffenentwicklung und -produktion. Deutschland ist der drittgrößte Waffenproduzent und -lieferer der Welt. Das heißt nichts anderes, als dass überall in der Welt mit Hilfe deutscher Technologie die entsetzlichsten Kriege geführt werden. Und Deutschland scheut auch nicht davor zurück, Waffen an diktatorische Regime und in Krisenregionen zu liefern, dient ja alles unserem Wohlsein – ausgenommen derer, die ihren Kopf hinhalten müssen bei Auslandseinsätzen, die gebrochen und traumatisiert zurückkommen, wenn sie denn zurückkommen.

Und wieder ist die Ansage zu dem Stück von schonungsloser Klarheit, wie es derzeit kaum ein anderer wagt. In seiner Dankesrede zum Liederpreis 1996 sagte Mey sinngemäß, dass er gerade diesen Preis sehr gerne entgegennehme, weil er ein politisch motivierter Preis sei. Er, Mey, sei ja seit Jahrzehnten als unpolitisch verschrien, und er freue sich deshalb besonders, weil die Jury darauf nicht abgehoben habe. Er sei immer ein politischer Mensch gewesen, wenn auch nicht auf platte oder agitatorische Weise.

Dass dies auch heute noch so ist, hat Mey mit diesem Lied und der Ansage dazu bewiesen, und ich wünsche ihm, dass gerade dieser Song viele aufmerksame Hörer, nein Zuhörer, bekommt.

 

Weitere Informationen:
www.reinhard-mey.de


Hinweis:
Die im Text erwähnte Ansage finden Sie auf Track 9 der ersten CD des Albums (ab ca. 4:50), das Lied selbst im darauf folgenden Track 10.

MAI 2018  Harald Justin, Wien

Acoustic Ramblers: Einen trink ich noch

An dem, was deutsche Leitkultur sein soll, scheiden sich bekanntlich die Geister. Mit welchen Liedern soll man die Jugend in die Zukunft begleiten, gar entlassen? Ist es schon fraglich, ob die deutsche Trinkkultur, ein sicherlich nicht unbedeutender Bestandteil des deutschen Alltags, empfehlenswert ist, so sind die dieser Kultur entspringenden Lieder noch fragwürdiger. Wo sich eigentlich raue, durch Wein- und Bierzufuhr aber gut geschmierte deutsche Männerkehlen beim Gesang von »Der Wacht am Rhein« und diversen Oktoberfestschmankerln öffnen, da erklingen die hiesigen Liedermacher durchaus verhaltener. Schüchtert das markige Gruppengrölen etwa ein? Eignet sich der Solovortrag nicht so recht zur alkoholseligen Verbrüderung? (Beim Nachbarn, im österreichischen Wienerlied hingegen weinen die Protagonisten gerne allein ins Weinglas!) Singt und redet man nicht so gerne über Lust und Leid am Hochprozentigem? Ist das schon politisch unkorrekt? Leben deutsche Liedermacher gar alkoholbefreit und total gesund?

Tatsächlich muss man lange suchen, um Annehmbares zum Thema in den Beiträgen deutscher Liedermacher zu finden. Eine der Perlen dieses kleinen Subgenres innerhalb der Menge an Liebesliedern, gesungenen Beziehungsratgebern und den ins Vage formulierten Politsongs hat das Duo Acoustic Ramblers nun geschaffen. »Einen trink ich noch«, so der Titel des kleinen Trinkerliedes, das ganz unprätentiös einen einsamen Abend in der Kneipe des Vertrauens schildert, wo der Wirt sogar, soviel Verkehrssicherheit muss sein, das Taxi für den Nachhauseweg bestellt. „Einen trink ich noch“, heißt es wiederholt im Text, und es ist klar, dass mit jeder wiederholten Textzeile eine weitere Bestellung aufgegeben wird und aus dem einen Glas noch mehrere werden. Über allem liegt dabei die leise Melancholie des Blues. Gezupft wird eine akustische Gitarre, durchaus im Bluesidiom, ein Saxofon hustet sich durch den imaginären, einsamen nächtlichen Abend des Protagonisten. Ob der Blues, diese so ur-afroamerikanische Musik, zu Deutschland und damit zur Leitkultur gehört, mag man diskutieren. Aber nicht hier, wo es eigentlich um den Spaß an der Freude geht. Und der schlägt im Fall von »Einen trink ich noch« sehr verhaltene, beinahe zärtliche, ruhig-verhaltene Töne an. Auch ein Genuss.


Weitere Informationen:
www.acousticramblers.de

APR 2018  Michael Laages, Hannover

Rudi Gall: Hass und Krieg

Stephan Sulke ist wieder da –
im Lied-Duett mit Rudi Gall singt er auch von »Hass und Krieg«

Der ewige Junge

Voll von Erinnerung ist diese Stimme – Stephan Sulke selber ist für zwei Lieder, auch für »Hass und Krieg«, zu Gast auf der CD, die Rudi Gall ihm, Sulke, gewidmet hat. Zum zweiten Mal schon hat sich der Sänger aus Duisburg umgetan im Repertoire des Schweizer Chansonniers, dessen wirklich große Zeit ja bald vier Jahrzehnte zurück liegt. 75 wird der in Shanghai geborene Sohn einer jüdischen Familie aus Berlin Ende Dezember, und noch einmal will er 2018 auf Konzertreise gehen.

»Hass und Krieg«, eingespielt im Duett mit Gall, bündelt das auch nach so langer noch erstaunliche Talent des Sängers, Texters und Komponisten. Was er immer konnte, war genau dies: Lieder klingen zu lassen, als seien sie für Kinder geschrieben; voller einfacher Wahrheit, aber nie schlicht. Über militärisch marschierendem Trommel-Rhythmus erklärt er die beiden sprachlichen Schreckgespenster im Titel einfach zu „dummen Brüdern“, ja sie sind sogar „die dümmsten Brüder, die es gibt“. Und wer will die schon. Die beiden Lied-Strophen greifen derweil Opfer-Erfahrungen auf, beschwören im Hass-Begriff die neue Ignoranz und den Rassismus, der wieder zu Leid und Elend wie im Krieg führen könnte; spielen mit der Geschichte, aus der Menschen lernen könnten – wie Kinder, die nicht wieder tun sollen, was schon einmal weh getan hat. Darunter gemischt sind originale Rede-Sequenzen von Stimmen, deren Besitzer die Welt ins Kriegsinferno von vor 80 Jahren stürzten.

Sulkes Stimme ist dabei so einfühlsam und jugendlich, so klar und absichtsvoll naiv wie früher – er bleibt ein Unikat deutschsprachiger Liedermacherei, immer haarscharf entlang am Schlager schlingernd und dennoch tief verwurzelt in der Geschichte auch des intellektuell und abstrakt entwickelten Chansons mit französisch- und englischsprachigem Horizont. In diesem Ton begann ja Sulkes Karriere - ein Grenzgänger zwischen den Stilen blieb er, was immer er schrieb und sang. Rudi Gall klingt daneben (und auch sonst auf dieser wirklich sehr schönen CD!) viel erfahrener im praktischen Umgang auch mit Pop und Jazz, also in der Vermischung der Sound-Perspektiven.

Klug und neu klingt Sulke mit und durch Gall; und ganz bei sich ist er eben auch – mit 75, und gegen „Hass und Krieg“.


Weitere Informationen:
www.rudi-gall.de
www.facebook.com/Rudi-Gall

MÄRZ 2018  Petra Schwarz, Berlin

Schnaps im Silbersee: Wildgänsehaut

Was ist eigentlich eine Wildgans? In einem einschlägigen online-Lexikon lese ich: „Wildgans ist ein anderer Name für die Graugans… Graugänse zählen zu den häufigsten Wasservögeln … und sind die zweitgrößte Gänse-Art in Europa.“ Soweit alles klar. Aber: Was ist eine Wildgänsehaut? Erfunden hat diese - ganz offenbar - Melvin Haack, einer der Drei der Liedermaching-Gruppe »Schnaps im Silbersee«. Mindestens singt er davon und spielt - in für ihn bekannter "Manier" - mit Worten. Hier mit sogar nur zweien: eben besagten Wildgänsen und der Gänsehaut. Großartig!

Haack baut auf die lange und vielfältige Tradition, Vögel als Symbol im Lied zu nutzen. In der Romantik standen diese für Fernweh und Sehnsucht oder wie bei Ringelnatz z.B. konkret für die Beschwörung des Gegensatzes von virtuoser Nachtigall und dem Spatz als - laut Alfred Brehm - „erbärmlicher Sänger“. Ina Prellwitz aus Braunschweig erwähnt das in einer - hoch interessanten - literaturwissenschaftlichen Abhandlung (Juni 2017) über »Vogelmotive in Songtexten der Liedermaching-Szene« und schreibt: „Ein Gefühl von Freiheit und Schwerelosigkeit, das Vögel verkörpern, dient … als Wunschbild/Projektion von Hoffnungen.“

Bei Melvin Haack klingt das auch an, aber: Er spannt den Bogen weiter. Viel weiter. Er spannt das - Achtung: wieder ein Wortspiel ;-) - "Sprungfederkleid" und schaut in die offene und weite Zukunft:

lange genug das fenster zur welt nur geputzt
lange genug meine schwingen gefaltet gestutzt
dies fenster zur welt, es schwingt auf und es wird mir zur tür
ich weiß nicht wohin, doch ich weiß, ich war lang genug hier

Nachdem - zu Beginn des Liedes - der Wind ihm zu verstehen gab, er „… hätte selber auch flügel“, ist nun der Punkt erreicht, da Melvin Haack seinerseits dem Wind selbstbewusst zu verstehen gibt, „ich hätte nun selber auch flügel“. Also: nie wieder „im stillstand rotieren“ … und schon gar nicht zu zweit. Ist hier noch eine unglückliche Liebe "versteckt"?

»Wildgänsehaut« ist ein Ohrwurm. Für mich ist es ein eher untypischer Song für Schnaps im Silbersee. Oder anders gesagt: außergewöhnlich als (offizieller) Abschluss der nagelneuen, zweiten CD »Synapsensilvester« des Berliner Trios. Wenn es eine klare Unterscheidung von "Liedermaching" und "Liedermacher" gibt, dann ist »Wildgänsehaut« ein typisches Liedermacher-Stück mit langem Vorspiel und wunderbar sparsamer Instrumentierung: Gitarren, die einerseits "häkeln" und andererseits Akkorde "schlagen", was das Zeug hält, ein angenehm zurückhaltender Bass sowie eine von Judith Retzlik einfühlsam - gezupfte und gestrichene - Geige und ganz zuletzt ein paar Takte Cello von ihr.

Unbedingt hören!


Weitere Informationen:
www.schnapsimsilbersee.de

FEB 2018  Michael Lohse, Köln

Robert Rotifer: Die Fehler

Ohne den Brexit wäre dieses Lied wohl nie entstanden. Als Ernst Molden seinen alten Freund Robert Rotifer fragte, ob er nach so vielen Jahren in England für sein Label nicht mal ein Album in seiner Heimatsprache aufnehmen wolle, rechnete er sich kaum Chancen aus. Die überraschende Zusage erklärt sich Molden so: „Nach und nach erst begriff ich, dass es diese Entscheidung der Engländer war, doch nicht so wirklich zu Europa zu gehören, die Roberts Verstörtheit, seine Trauer und seinen Zorn und damit die Songs hervorbrachte, die ich hier in Wien hören konnte.“

Gleich im ersten Stück des Albums hält Rotifer der menschlichen Gattung gnadenlos ihre Schwächen vor. „Da sind die Fehler, die dir manchmal unterlaufen“, heißt es zu Beginn jeder Strophe. Dann beschreibt er in immer stärkeren Bildern die Halbheiten, derentwegen wir uns irgendwann auf einem Gleis wiederfinden, für das wir uns nie bewusst entschieden haben: „Den Mantel, den du trägst, wollt’st du dir gar nicht kaufen“. Oder er spielt an auf die Gewohnheiten, mit denen man sich durch die Tage rettet und deren Folgen man verdrängt: „Du ertappst dich auf den Stiegen beim Verschnaufen () und rollst dir trotzdem ein Gerät“. Er benennt das kleine Scheitern an den eigenen Ansprüchen: „Du schreist mit Kindern, die am Sonntagabend raufen / Das Gefühl noch in den Knochen / Vom Verenden schwerer Wochen“. Und all diese in ihrer Alltäglichkeit doch so menschlichen Fehler bekommen in der letzten Strophe eine Wendung ins Apokalyptische: „So gehen die Fehler, wo wir dann am Ende draufgehen.“ Wenn sich nämlich die tägliche Gleichgültigkeit in einer fatalen Spirale summiert zum moralischen Ausverkauf: „Eine Zeitlang macht es gar nicht so viel Aufsehen / Wenn vor der Tür Faschisten stehen / Und sich die Zimmerpflanzen drehen / Fehlt einem bald einmal die Energie zum Aufstehen“.

Auch in seiner Heimatsprache zeigt der Sänger und Musikjournalist, wie mustergültiges Songwriting geht: Von der kleinen Beobachtung hangelt er sich zum großen Ganzen, vom Detail zur Politik. Rotifers Sprache mit ihrer Mischung aus poetischer Kraft und politischer Botschaft lässt einen an Brecht oder Enzensberger denken. Die wienerische Färbung ist noch immer unüberhörbar. Ihm gelingen Verse und Melodien, die hängen bleiben, nur zur akustischen Gitarre gesungen mit dieser warmen und doch leicht brüchigen Stimme, in der sich die Ungewissheit spiegelt – die private wie die des Kontinents.

Popmusik und Politik sind für Robert Rotifer keine unvereinbaren Gegensätze – weder in seinem Leben noch in seinem Werk. Seine Großmutter war eine kommunistische Widerstandskämpferin, sein Vater der einflussreiche SPÖ-Politiker und langjährige österreichische Finanzminister Ferdinand Lacina. 1997 zog der Britpop-Jünger in seine Traumstadt London, Mitte 20 war er da, und wurde schnell zum Teil der britischen Musikszene, auch wenn er stets ein berufliches Standbein in Österreich behielt als Musikjournalist und Moderator von FM4. .

Heute aber deprimiert ihn die Entwicklung seiner Wahlheimat zutiefst. Denn wo es „schon als unverfroren gilt, dass Leute, die anderswo her sind, genau so viel wert sind“, wie es an anderer Stelle auf dem Album heißt, hat der Populismus gewonnen. Dabei war Rotifer einst ausgerechnet dorthin geflohen vor der geistigen Enge seines heimatlichen Kosmos Wien, hatte den Sprung über den Ärmelkanal gewagt auf der Suche nach neuen Horizonten und sich in Canterbury mit seiner Familie ein neues Zuhause aufgebaut. Nun lastet einerseits der Brexit auf seiner Emigrantenseele, andererseits bewahrt ihn die FPÖ-Regierungsbeteiligung vor allzu viel Heimweh. Auf diese doppelt deprimierende Situation reagiert Rotifer mit dem zwar resignativen, aber wunderschönen Album »Über uns«, das viel zu klug ist für den moralischen Zeigefinger und gerade deshalb unter die Haut geht.


Weitere Informationen:
http://robertrotifer.co.uk

JAN 2018  Dieter Kindl, Kassel

Maxim: Issam

Kinderlieder sind angesagt: Seien es nun die allgemein bekannten Lieder, die meist aus dem 19. Jahrhundert stammen oder die der Kinderliedermacher, die seit den 1970er-Jahren dieses Genre mit neuen Liedern bereichert haben. Letztere entführen das junge Publikum sowohl musikalisch als auch textlich meist in eine verniedlichte Plüschwelt.

Seit etlichen Jahren gibt aber auch einen gegenläufigen Trend: Songs, die rocken und grooven und mit Texten, die den Kinderalltag widerspiegeln. Auf dem nun schon dritten Teil der Reihe »Unter meinem Bett« fand ich ein Lied, dass es mir besonders angetan hat.

Maxim Richarz aka Maxim erzählt darin von einem Jungen, der anscheinend übermütig ist. Ihm macht es nichts aus, wenn er "volle Kanone" vom Schlitten fällt, er klettert auf Bäume, dreht sich, bis ihm schwindelig ist. Bloß vor einem hat er Angst: "ins tiefe Wasser traut er sich nicht". Der Grund dafür ist aber ein ganz anderer als man zunächst vermuten könnte.

Heute hat Issam ein Bild gemalt
auf dem
böse Männer kommen um ihm
den Schlitten wegzunehmen.
Große böse Männer und sie rennen
ihm hinterher
und er und seine Schwester müssen
flüchten übers Meer.

"Ich schreibe nur noch über Dinge, die mich wirklich berühren", sagt Maxim. Mich hat dieser Song berührt. Weil er mit einfachen Worten erklärt, warum immer wieder Menschen aus ihrer Heimat flüchten müssen. Musikalisch wird das Ganze mit einem treibenden Rhythmus untermalt, der in der Karibik üblich ist. Das geht in den Kopf und in die Beine - nicht nur bei Kindern sondern hoffentlich auch bei Erwachsenen!


Weitere Informationen:
www.maximmusic.net

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